Solachti[1]
Dieser Test wurde der Zeitschrift „Der Israelit“ Heft 39 vom 24.09.1908 und Heft 40 vom 01.10.1908 entnommen. Der Autor zeichnet leider nur mit seinen Initialen E.W. Ich weiß leider nicht, wer sich dahinter verbirgt.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:
https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2507513
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Von E. W.
Erev Rosch-Haschonoh[2] ist es. Jomtof-Stimmung[3] herrscht in jedem Winkel des festlich hergerichteten Zimmers. Geschäftig eilen die beiden Töchter des Hauses, die 17-jährige Sarah und die 12-jährige Ruth hin und her, um die letzten Vorbereitungen für die Festtafel zu treffen. Die blitzblanken silbernen Leuchter sind schon mit brennenden Kerzen versehen. Bevor die Mutter in „Schul“[4] gegangen ist, hat sie Licht gebenscht[5]. „Schnell, Ruth, die Geschenke herbei!“[6] Sarah stellt eiligst die bis jetzt versteckt gehaltenen Blumen in Vasen, stellt sie mitten auf den Tisch und legt nun Ruths hebräisch geschriebenen Neujahrswunsch unter die Barchesdecke[7]. Indessen kommt Ruth atemlos zurück. Behutsam entnimmt sie ihrer Schürze ihr Rosch-Haschano-Geschenk für die Eltern. Ein Barchesdeckchen ist es. Sie selbst fand ihre Arbeit wunderschön; jetzt aber erfasst sie doch Zweifel.
„Du, Sarah, sag mal, aber ehrlich, gefällt es dir wirklich?“
Sie wünscht eine bejahende Antwort, die ihr auch wird. „Sehr sauber gestickt; Mutter wird sich freuen.“
Mit stolzem Lächeln betrachtet Ruth ihr Werk. Von dem roten Samt heben sich, wirkungsvoll die in goldgelber Seide gestickten hebräischen Lettern ab.
„Ruth, Ruth, beeile dich! Wo ist Davids Geschenk?“
„Hier, Sarah, wunderschön ist das Eßrog-Kästchen[8] ausgefallen!“
Sarah stellt es auf den Tisch. „Dein Misrach[9] ist aber unser Glanzstück! Wenn ich doch auch malen könnte!“ „Halt!“ ruft Ruth plötzlich.
Sarah fährt erschrocken zusammen. „Wo fehlt’s, Wildfang?“
„Auf dem Tisch, nämlich das Obst, der Süßapfel,[10]“ lacht Ruth.
„Richtig! Hole es flink; dann wollen wir beten!“
Die Mädchen lassen sich an dem herrlich dekorierten Tisch nieder. Vorher haben sie an Flur- und Küchenlampe „Licht gebentscht[11]„. Feierliche Stille lagert im ganzen Haus. Andächtig beten die beiden. Die besonnene Sarah bleibt in stiller Betrachtung an ihrem Platz. Ruth hat rasch Hut und Mantel geholt. „Ich hole die Eltern und David“, ruft sie der Schwester zu. Und schon ist sie draußen die Treppe hinunter gesaust und in wenigen Minuten bei der nahen Synagoge angelangt.
Gerade strömen aus der Synagoge die Andächtigen heraus. Ruth eilt auf Bekannte zu, ihnen gratulierend. Mit freudig pochendem Herzen führt sie ihre Lieben nach Hause. Sie kann den Moment gar nicht abwarten, da Vater und Mutter Neujahrswunsch und Geschenke anstaunen werden. Endlich, endlich ist er da, der große Augenblick. Mit strahlendem Gesicht heimst sie das reichlich gespendete Lob ein. Jetzt macht Vater Kiddusch[12]. Dann bespricht er eingehend den Ernst dieses Festtages, fordert seine Kinder auf, nachzudenken über die begangenen Fehler, sie zu bereuen, Verzeihung zu erbitten von den Gekränkten, damit auch Gott uns vergebe. Ein ernster Blick trifft Ruth, deren Streitlust oft genug den Eltern Verdruss machte.
„Ich bin mit niemandem böse!“ beteuerte sie lebhaft.
„Was nicht ist, kann noch werden,“ murmelte David.
Schon will sie schnippisch antworten, da besinnt sie sich rechtzeitig, schluckt die heftige Bemerkung hinunter, die sie bereits auf der Zunge hatte und wendet sich achselzuckend von dem Bruder ab.
Am 1. Tage Rosch-Haschono nach dem Minchagebet[13] holt Ruth ihre Freundin Recha zum „Taschlichgebete[14]“ ab. Auf dem Weg zu dem Fluss treffen die beiden Unzertrennlichen eine Schulfreundin, die in gleicher Absicht zu dem fließenden Wasser pilgert. Die drei Kinder unterhalten sich über diese Vorschrift. Abwechselnd erklären Recha und Ruth die sinnige Bedeutung des Taschlichbrauches, so gut sie es von der Religionsstunde her wussten. Wie das Wasser die Flüchtigkeit unseres Daseins versinnbildliche, die Fische uns daran erinnern, wie oft nach Israel[15] die Netze des Verderbens ausgeworfen wurden, ohne dass es gelungen ist, es zu fangen.
Zornesröte steigt in Ruths Wangen, als Klara bei dieser schönen Auslegung hell und dumm auflacht.
„Mit dir Amhoorez[16] will ich nichts zu tun haben; geh fort von uns?“ schreit sie wütend.
Mit Tränen in den Augen entfernt sich Klara. Ruth ist bestürzt über ihre Heftigkeit. An Rechas Kälte merkt sie wie sehr diese ihr liebloses Vorgehen verurteilte. Sie erinnert sich des Verbotes, andere zu beschämen und an den herannahenden Versöhnungstag[17]. Tief schämt sie sich vor Recha und konnte es ihrer Gewohnheit gemäß nicht unterlassen, die Scham durch neue Zornesausbrüche zu verdecken.
„Wenn du`s mit Klara hältst, brauche ich dich nicht zur Freundin,“ erbost sich Ruth.
„Wenn du mich entbehren kannst,“ ist die ruhige Antwort Rechas, „dann gehe ich eben.“
Ruth bleibt allein am Fluss zurück. Noch gesteht sie sich ihre Schuld an dem Zerwürfnis nicht ein. „Ich habe recht!“ murmelte sie trotzig.
Trotzdem kann sie diese Nacht nicht gleich einschlafen. Am Morgen weicht sie der Freundin aus, die gleich ihr während des Schofarblasens im Tempel ist. Jetzt hätte sie abbitten können wären beide in ihrer Nähe gewesen.
Das Fest ist vorüber. In der Schule reiht sich Ruth, von den anderen gemieden, Mitschülerinnen an, die gerade nicht zu den bravsten gehörten. Am Nachmittag ist Zeichenstunde. „Du, Ruth,“ rufen ihr die neuen Freundinnen zu, „heute haben wir uns was Feines ausgedacht. Die langweilige Zeichenstunde soll wunderschön werden!“
Widerstandslos lässt Ruth in den Plan sich einweihen und schlägt ein, ohne recht den Sinn begriffen zu haben. Der Unterricht beginnt. Ruth beugt sich tief über ihr Heft. Bleistift und Gummi werden fleißig in Tätigkeit gesetzt. Plötzlich fliegt ein Briefchen auf ihr Heft. Aha! Der Bund kündigt seine Arbeit an. Verstohlen schaut sie hinein. Da erblickt sie die Karikatur, des Zeichenlehrers. Wenn Herr Bär sie sähe! Das Blättchen entfällt ihren Händen. Sie bückt sich darnach. Gerade hat sie sich aufgerichtet, da fragt der Lehrer, welcher sie beobachtet hat: „Was hast du da in der Hand?“
Ruth erschrickt heftig. Auf Befehl des Lehrers geht sie zitternd und wankenden Schrittes ans Katheder, reicht den Zettel hin und bleibt stehen. Es ist ihr, als müsse die Diele des Schulzimmers sich öffnen und sie tief, tief hinunterstürzen in das Erdreich. Sie wartet auf diese Erlösung. Nichts von alledem geschieht.
„Setzen!“
Ehe sie weiß, wie es zugeht, sitzt sie wieder auf ihrem Platz und kann nun über die Art der Strafe Nachdenken, die ihr werden wird.
„Ich hab’s doch nicht getan!“ denkt sie verzweiflungsvoll. „Aber verraten darf ich doch auch nichts.“
Die Minuten schleichen langsam dahin. Ein würgendes Schluchzen sitzt ihr in der Kehle. Da! Ein Glockenschlag. Die Stunde ist aus. — Jetzt wird die Strafe kommen. Doch nein! Herr Bär entfernt sich, ohne ein Wort an sie zu richten.
Ruth ist am Ende ihrer Kraft. Morgen wird das Strafgericht einbrechen. Herr Bär wird dem Herrn Rektor die Zeichnung vorlegen und dann — —. Laut aufschluchzend schlägt sie die Hände vor das Gesicht.
„Mach‘ dir nichts draus!“ ruft die Verfertigerin der Karikatur. „Wie dumm, dass die anderen sie nun nicht sehen können! Schneidig war sie! Ob Herr Bär sie wohl einrahmen wird?“
Unter schallendem Gelächter stürzt die Anstifterin des Unheils aus dem Zimmer, von ihren Trabanten gefolgt.
„Pfui!“ ruft ihr Recha nach, „wie kannst du nur so unehrlich und feige sein! Du musst morgen sagen, dass du die Zeichnung gemacht hast.“
„Fällt mir nicht im Traume ein,“ tönt es zurück.
Recha wandte sich an Ruth. „Komm Ruth!“ Still gehen die Kinder nach Hause. Recha schüttelt die Hand der Freundin beim Auseinandergehen.
„Danke!“ flüstert Ruth.
Unbemerkt gelangt sie in ihr Stübchen. Die Schularbeiten für den kommenden Tag sind ihr eine willkommene Ablenkung. Vor dem Zubettgehen „leint“[18] sie das „Krias Schema[19]“ mit besonderer Innigkeit. „Lieber Gott, lasse alles gut werden!“ flüsterte sie vor dem Einschlafen“
Am anderen Morgen tritt die treue Recha gemeinsam mit ihr den Schulgang an. Der Unterricht nimmt seinen Anfang. Ängstlich beobachtet Ruth die Tür. Es klopft! Gleich wird der Herr Rektor eintreten. Spannung liegt auf den Gesichtern der Mitschülerinnen. Nein, er ist es nicht! Eine Langschläferin tritt verlegen auf das laute „Herein“ des Klassenlehrers ein. — In der Zehnuhrpause ist die übermütige Schuldige ganz aus dem Häuschen vor Freude über das Ausbleiben des Rektors. „Na, Ruth, steck‘ deine saure Miene ein, du Angsthase!“ ruft sie dem geängstigten Kind zu. „Komm zu uns, wir nehmen dich Unschuldslämmchen wieder in Gnaden auf!“
Ruth wendet sich von ihr ab. Hand in Hand geht sie mit der Freundin dem Spielplatz zu.
„Ich glaube auch,“ sagt jetzt Recha, „dass Herr Bär die Sache ganz vergessen hat.“ Ruth schüttelt den Kopf.
Um die Freundin abzulenken, fragt Recha: „Wirst du diesen Jom Kippur ausfasten?“[20]
„Natürlich!“ bejaht Ruth, „ich bin ja schon zwölf durch.[21]„
„Ich faste schon zum zweitenmal ganz aus,“ bemerkte erstere.
„Freust du dich drauf?“
Ruth nickt eifrig. Wie hatte sie doch Schwester und Bruder beneidet, die schon so oft zu den Großen gerechnet wurden. Nun soll die Freude des ersten Fastens durch einen solchen Kummer beeinträchtigt werden? Da gedenkt sie des Vaters Ermahnung, die Zeit vor dem Versöhnungstag richtig zu benutzen. Sie fasst einen Entschluss.
„Ich gehe zu Herrn Bär,“ sagt sie aus ihrem Denken heraus.
Am Nachmittag, gleich nach der Schule, wandern Ruth und Recha der Wohnung des Zeichenlehrers zu. Mit Herzklopfen steht Ruth vor der Tür. Hätte die treue Begleiterin nicht rasch die Glocke gezogen, sie wäre wohl wieder fortgelaufen. Die Türe wird geöffnet. Recha tritt beiseite. Leise klopft Ruth an.
„Nur herein, mein Kind,“ ertönt es von innen.
Verlegen nähert sich Ruth dem Schreibtisch vor dem Herr Bär sitzt. Hilfesuchend lasst sie die Augen herumschweifen. Da, oh Entsetzen! erblickt sie die Karikatur auf dem Schreibtisch. Sie kann den Blick nicht davon abwenden.
„Nun, Ruth,“ ermuntert sie der freundliche Lehrer, „was wünschst du?“
Der milde Ton bringt sie zum Weinen. „Ich, ich hab’s nicht getan!“
„So! du kommst also, um andere anzuklagen!“
„Nein, ich verrate niemand; aber ich — ich —“ Erneutes Schluchzen. „Ich, bi — bitte um Verzeihung, weil ich so ungezogen war — und — und — der Versöhnungstag ist übermorgen.“
„Dass du die schöne Zeichnung nicht gemacht hast, wusste ich sofort,“ sagte der Lehrer mild. „Kenne ich doch deine wenig kunstgeübte Hand, dass du die Übeltäterin nicht nanntest, gefiel mir. Darum verzeihe ich dir dein ungehöriges Betragen von gestern. Aber sage, Kind, was war mit dir vorgegangen, wie konntest du dich den Wildesten angesellen? Ich erkannte dich nicht wieder.“
Unter anfänglichem Stottern kommt der Sachverhalt heraus. Ruth schont sich nicht. Ernst hört Herr Bär zu. „Siehst du, Kind,“ sagt er dann ernst, „da hast du schon in jungen Jahren die Wahrheit des Schillerschen Wortes kennen gelernt: „Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, nur Böses kann gebären.“[22] Du hast eine heilsame Lehre erhalten. Vergiss sie nicht.“
[1] Verzeihe mir; ein Gebet aus der Rosch-Haschana-Liturgie
[2] Der Vorabend von Rosch Haschana, dem Neujahrsfest
[3] Feiertagsstimmung
[4] Synagoge
[5] Die Feiertagskerzen gesegnet
[6] Den Brauch, sich zu Rosch-Haschana zu beschenken kenne ich nicht
[7] Barches = Challa, die Decke mit der das Brot zu Feiertagen zugedeckt wird.
[8] Etrog, eine zitrononenartige Frucht, die zu Sukkot einen Teil des Festtagsstrauches ausmacht. Zur Aufbewahrung dieser Frucht hier ein Kästchen
[9] Ein Bild vom Tempel in Jerusalem
[10] Nach dem Segen über Wein, folgt der Segen über die Challabrote und danach wird zu Rosch-Haschana ein Stück Apfel in Honig getaucht und mit dem Segenswunsch verbunden gegessen, dass das kommende Jahr so süß wie der Apfel werden solle.
[11] Den Segenspruch über das Licht gesagt. Man kann nicht nur den Segenspruch über die Feiertagskerzen sprechen, sondern auch generell über andere Lichtquellen
[12] Er spricht den Segenspruch über Wein
[13] Nachmittagsgebet
[14] Es ist Brauch am 1. Tag Rosch Haschana nach dem Nachmittagsgebet an einen Fluß zu gehen um dort Gebete zu sprechen
[15] Gemeint ist hier das Volk Israel
[16] Einfach, dümmliche Person
[17] Jom Kippur – die Tage von Rosch Haschana bis Jom Kippur werden auch als die 10 Bußtage bezeichnet, an denen u. a. durch Umkehr von bösen Taten das Los für das kommende Jahr beeinflusst wird.
[18] leinen = lesen, jiddisch
[19] Das Schema-Gebet, das morgens und abends zu sprechen ist
[20] Jom Kippur ist ein strenger Fastentag. Kinder sind davon befreit – möchten aber den Erwachsenen nicht nachstehen.
[21] Mädchen werden mit 12 Jahren religionsmündig, Jungs mit 13. Damit ist sie zum Fasten verpflichtet.
[22] Aus „Wallenstein“