Am 9. Aw beweinen wir die zweimalige Zerstörung des Tempels und den Verlust des von Gott uns zugewiesenen Landes. Wie konnte das passieren? Dieser Frage geht Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l in dieser Betrachtung nach.
Diesen Artikel habe ich dem Monatsblatt „Jeschurun“ 4. Jahrgang, Heft 11, aus dem Jahre 1858 entnommen.
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter:
https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2942614
וְנוֹשַׁנְתֶּם “ [1]„
Wenn sich am 9. Aw Israels Gemeinden in ihren „kleinen Heiligtümern“ sammeln um sich gemeinschaftlich vor Gott mit dem Gedächtnis Jeruschalaim-Zions, mit der Trauer um ihren Fall und mit der Erinnerung an das ganze tragische Galuth-Geschick zu erfüllen, das seitdem den Blättern der jüdischen Geschichte Stoff und Inhalt bildet, dann nehmen sie das Buch des Bundes[2] und lesen sich daraus die Worte vor, in welchen bereits neunhundert Jahre vor der ersten, und fast vierzehnhundert Jahre vor der zweiten, endlichen Katastrophe der ganze Gang ihres künftigen Geschickes im Voraus verkündet worden. Und in der Tat, wenn etwas geeignet ist, uns immer aufs Neue der Göttlichkeit bewusst werden zu lassen, die unseren heiligen Urkunden als Siegel der Wahrhaftigkeit aufgedrückt ist; wenn etwas geeignet ist, uns mit tiefbegründeter Verachtung zu erfüllen gegen alles, was eine blasphemierende „Theologie“ von dem Nichtvorhandensein einer wirklichen und wahrhaftigen Prophetie in dem ganzen schlichten Verstand, in welchem dieser Begriff eine der wesentlichsten Grundlagen des ganzen Judentums bildet, zu faseln sich erlaubt: so ist es ein Blick auf diese Verkündigungen, in welchem Jahrtausend zuvor uns das ganze Geschick unserer Zerstreuung gezeichnet war, ehe wir noch den ersten Fuß auf den Boden unserer Selbstständigkeit gesetzt, und die selbst die kühnste kritische Taschenspielerkunst nicht so tief hinab zu versetzen vermag, dass sie nicht selbst nach ihren, soi disant[3] wissenschaftlichen, Halluzinationen lange zuvor dem israelitischen Volk in Händen gegeben war, ehe noch der römische Riese aus seinen historischen Kindheitswindeln sich zu wickeln begonnen, der später unter seinen gigantischen Erobererschritten unseren Staat zu Boden trat und die captiva Judaea[4] in die Zerstreuung führte.[5] Nichts ist zugleich so geeignet einen jeden Juden mit tiefer, anbetender Hingebung gegen die höhere Hand zu erfüllen, die sein historisches Geschick inmitten der Völker leitet, die ihm von vornherein Rechenschaft gegeben hat von den Schicksalen, die sie über ihn verhängen, von der Erniedrigung und zugleich von der wundervollen Erhaltung inmitten dieser Erniedrigung bis zu den herrlichen Zeiten [6] בְּאַחֲרִית הַיָּמִים hin, die sie ihn finden lassen werde, und deren Waltung er mit diesem Buch in der Hand noch heute verehren lernt in jeder Scholle, die ein germanischer Gassenbube zum Steinwurf auf den Juden erhebt, und in jedem Wort der Wahrheit und des Rechts, mit welchem ein germanischer Mann für das Menschenrecht und die Menschenwürde des Juden in die Schranken tritt. Nichts endlich ist so geeignet uns mit dem Bewusstsein unserer eigenen Aufgabe zu erfüllen und uns zu sagen, wie es nie und nimmer geschehen werde, dass wir in die Masse der Völker uns verlierend aufgehen werden, dass nie und nimmer die Hand die uns zerstreute ein solches Aufgehen als Ziel unserer Zerstreuung gesetzt, dass vielmehr Rückkehr zu Gott und zu treuem Gehorsam gegen seinen uns geoffenbarten Willen das einzige Ziel sei, das wir erreichen sollen, und, wäre es auch erst spät, בְּאַחֲרִית הַיָּמִים , erreichen werden.
Sollten wir uns diese Worte nicht noch einmal hier vergegenwärtigen, die wir am Trauertage Jeruschalaim-Zions aus dem Buch des Bundes gelesen?
„Wenn du Kind und Kindeskinder zeugen wirst und ihr werdet alt werden im Lande, dann werdet ihr entarten und Götterbilder machen jeglicher Gestalt und werdet was in den Augen deines Gottes böse ist üben, ihn zu erzürnen. Ich aber habe euch dann heute Himmel und Erde zu Zeugen bestellt, dass ihr rasch von dem Lande verloren gehen werdet, das in Besitz zu nehmen ihr jetzt den Jordan überschreitet. Nicht lange werdet ihr darin bleiben, sondern vernichtet werdet ihr werden. Und es zerstreut euch Gott unter die Nationen, so dass ihr in geringer Anzahl unter den Völkern bleibet, wohin Gott euch führt. Dort werdet ihr Göttern untertan, menschlicher Hände Werk, Holz und Stein, die nicht sehen und nicht hören, nicht essen und nicht riechen. Von dort werdet ihr ה‘ deinen Gott suchen und du wirst ihn finden, denn du wirst ihn suchen mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele. In deiner Bedrängnis, wenn dich alle diese Worte getroffen haben werden, am Ende der Tage, wirst du zu ה‘ deinem Gotte zurückkehren und seiner Stimme gehorchen. Denn ה‘ dein Gott ist ein erbarmungsvoller Gott, er lässt dich nicht fahren und vernichtet dich nicht und vergisst den Bund deiner Väter nicht, den er ihnen geschworen.“[7]
Wir möchten aber aus diesem Geleitbrief unseres Volkes heute einmal einen Gedanken zur näheren Erwägung hervorheben, in welchem uns die Verirrungen alle, die uns den zeitlichen Untergang brachten, in ihrer Wurzel zusammengefasst scheinen, und der somit Wahrheiten enthalten dürfte, deren Erkenntnis und Anerkenntnis jederzeit zum Heil gereichen könnten.
Dieser Gedanke ist uns in dem Worte “ וְנוֹשַׁנְתֶּם „ „ihr werdet alt werden“, gegeben, ein Wort, das schon von alters her als Chronogramm zur Bezeichnung des Zeitraums von 852 Jahren diente, den Gottes Barmherzigkeit, um das Verderbnis nicht zum vollen Maße erwachsen zu lassen, Israels erstes Staatenleben nicht voll im Lande erreichen ließ, (von Josua bis zur Zerstörung des ersten Tempels verliefen nur 850 Jahre). Uns scheint aber dieses Wort nicht nur dieses äußere Zeitmaß unseres Untergangs, es scheint uns die innere Ursache desselben zu enthalten, scheint uns die Klippe anzudeuten, an welcher Israels Staatsglück gescheitert, und die sicherlich ein jedes andere Beginnen auf Erden zu fürchten haben muss, wenn sie selbst stark genug gewesen, ein so sichtlich von Gottes Gnade geschirmtes und getragenes Werk, wie Israels Glück, zu zertrümmern.
וְנוֹשַׁנְתֶּם! Ihr werdet alt werden im Lande! Je älter man in einem Verhältnis wird, je mehr man sich von dessen Anfang entfernt, umso mehr vergisst man dessen Ursprung, umso mehr treten immer die Verhältnisse aus denen man in dies Verhältnis übergegangen, und das Andenken derer in den Hintergrund, denen man diesen Übergang verdankt. Je älter man in einem Verhältnis wird, umso mehr vergisst man seines Anfangs und Ursprungs, und diese Vergessenheit tut keinem Verhältnis gut, Israel kann sie am wenigsten ertragen. Es gibt wohl kaum ein Verhältnis, das nicht eben aus seiner Vergangenheit besondere Pflichten, besondere Aufgaben trüge. Es gibt wohl kaum ein Verhältnis, für welches nicht eben aus seiner Vergangenheit das Geheimnis seiner Gegenwart, die Bedingungen seiner Dauer, die Hoffnungen und Befürchtungen für seine Zukunft zu schöpfen wären; kaum ein Verhältnis, dessen Untergang nicht nahe wäre, so man seines Anfanges und Ursprungs vergisst. Israel aber ist verloren, Israels Untergang ist schon vollzogen, sobald ihm sein Anfang und Ursprung aus dem Bewusstsein tritt; denn eben in diesem Anfang und Ursprung liegt der Grund für seinen ganz besonderen geschichtlichen Gang in der Mitte der Völker, und seine ganz besondere Mission im Kreis der Menschheit. Sobald Israel die Knechtschaft vergisst, aus welcher es zur Freiheit, das Elend, aus welchem es zur Fülle gelangt, sobald es den vergisst, der es aus Knechtschaft und Elend zur Freiheit und Fülle geführt, so wird ihm seine eigene Existenz in der Gegenwart zum Rätsel, so hat es den Schlüssel zur Erkenntnis des eigenen Wesens verloren: es kennt den Boden nicht mehr, auf welchem seine Existenz und sein Glück beruht — und seine Existenz und sein Glück gehen in Trümmer auf. Es scheint ihm seine Sonne, es reift ihm sein Korn, es blühen ihm seine Äcker, es fühlt seine Kraft, sein Ansehen, seine Macht, es sieht sich Volk inmitten der Völker, gleich ihnen wähnt es die Bedingungen seiner Blüte und seiner Macht in der eigenen Kraft und der eigenen Macht und in der eigenen Klugheit zu finden, die „alles Sichtbare um sich zu Göttern seines Gedeihens und seines Heiles“ gestaltet und es vergisst, dass es nur von den Adlersflügeln der Allmacht des unsichtbaren Einen getragen sei, dass, so dieser es verlässt, es in die Tiefe seiner eigenen Ohnmacht hinabstürzt, in welcher alle Wogen der Zeitgewalten über es zusammenschlagen, und aus welcher keine „Klugheit, und keine Politik und kein Scharfsinn“ es zu retten vermag. Wehe ihm, wenn es Kind und Kindeskinder zeugt und alt wird in seinem Lande!
וְנוֹשַׁנְתֶּם! Ihr werdet alt werden im Lande! Je älter man wird in einem Verhältnis, je mehr tritt die Möglichkeit eines Wechsels in den Hintergrund; man vergisst, dass es einmal anders gewesen, man vergisst noch mehr, dass es je einmal wieder anders werden könne. Man fühlt sich so mit den Verhältnissen und diese Verhältnisse so mit sich verwachsen, dass man immer sorgloser sich den Plänen der Zukunft überlässt, ohne zu denken, dass vielleicht schon der nächste Augenblick nicht mehr unser sein mag. Sind erst in einem Verhältnis „Großvater und Sohn und Enkel“ ergraut, dann meint man immer mehr und mehr das Verhältnis trage sich von selbst und es bedürfe immer weniger Anstrengung und Hingebung zur Erhaltung eines Zustandes, je länger bereits derselbe gedauert. Man vergisst, — und das ist die gefährlichste Vergessenheit, das ist die Vergessenheit, die unter tausend in neunhundert neunundneunzig Fällen das glänzendste Glück von Menschen und Familien und Völkern begräbt — dass kein Verhältnis zu seiner Erhaltung der Mittel entbehren kann, die zu seiner Gründung notwendig waren, dass vor allem kein Volk sich auf der Höhe seines Glückes ohne die Bedingungen erhalten kann, die es zu dieser Höhe geführt und dass noch jede Nation in das Grab der Vernichtung geschritten, die sich von den Tugenden entfernt, deren sie zu ihrem Aufblühen bedurft. Und Israel? „Gehe, gehe und rufe es Jeruschalajim ins Ohr“, sprach Gott zum Jirmijahu, „Ich gedenke dir die Hingebung deiner Jugend, die Liebe deiner bräutlichen Zeit, wie du nur nachwandeltest durch die Wüste, durch ungesätes Land.“[8] Gott angehöriges Heiligtum sollte so Israel bleiben, bleiben der Erstling seiner Weltenernte, wer sich daran vergriffe, verschuldete sich, Unglück bräche über ihn ein!— Wenn aber diese Hingebung mit der Jugend, die Liebe mit dem Brautstand endet, Israel nur so lange Gott nachwandelt als seine Umgebung es noch als Wüste anstarrt, es nur so lange Gott nachwandelt als seine Umgebung es zurückstößt, es nur so lange Gott nachwandelt als seine Umgebung ihm alles versagt, es nur so lange Gott nachwandelt als es von Gott und nur von Gott alles zu erwarten hat; — aber ins Land der Freiheit und der Selbstständigkeit, des Besitzes und des Überflusses gelangt, es immer weniger Gottes zu bedürfen vermeint, je mehr ihm seine Gegenwart bietet; es vergisst, dass es nur durch dieselbe Hingebung und Liebe, durch dasselbe treue Nachwandeln sich das Glück zu erhalten vermag, durch welche es sich desselben würdig gemacht: so wird es zu aller Zeit sich immer mehr und mehr von Gott entfernen, statt Gott dem Nichtigen nachwandeln — und der Nichtigkeit verfallen, wie die Nichtigkeiten, die seine Ziele, seine Götter geworden — Wehe uns, wenn wir Kinder und Kindeskinder zeugen und alt werden im Land der Freiheit und des Wohlstandes!
וְנוֹשַׁנְתֶּם ! Ihr werdet alt werden im Lande! ! יָשָׁן, nicht ; – זָקֵן זֶה שֶׁקָּנָה חָכְמָה[9] – זָקֵן ! זָקֵן ist das geistig Gereifte, ist das was durch die Länge der Zeit nur gewonnen. יָשָׁן aber ist das, was durch die Länge der Zeit an Frische und Kraft, an Lebendigkeit und Schärfe eingebüßt, ist das, was — „schlafen gegangen“, wie das Wort in so tief inniger Sprachverwandtschaft bedeutet, und das ist das am meisten zu fürchtende mit jeglichem unserem „Altwerden“ im Lande.
Wie viel versprechen wir uns nicht oft von einem Kind in seiner Bildung, von einem Mann in seinem Beruf, und sehen wir das Kind als Jüngling, den Mann nach Jahren bei seinem Werk, wie oft sehen wir uns da bitter in unserer Erwartungen getäuscht! Wie viel versprechen sich nicht der Jüngling, der Mann sich selbst von sich selber bei dem Antritt ihres Lebenslaufs und ihres Berufs, und welch ein bitteres Gefühl der Täuschung erfüllt nach Jahren ihre Brust, wenn sie vergleichen was sie geworden und geleistet, mit dem, was zu werden und zu leisten sie gehofft! Mit welchen begeisternden Hoffnungen werden Werke begonnen, Ehen geschlossen, Anstalten gebaut, Vereine gegründet, Gesellschaften, Gemeinden, Völkerverbindungen gestiftet, und wie oft bewährt sich da der alte Spruch in umgekehrtem Verhältnis: mit Jubel und Festlichkeitsprogrammen hat man die Saat der Hoffnung gestreut, schamrot und seufzend schleicht man nach Jahren mit der kärglichen Ernte nach Hause. Und warum? Weil man es nicht verstanden die Lust und Begeisterung frisch und wach zu halten, mit denen der Anfang begonnen, weil die Lust und die Begeisterung nicht die rechte und die wahre gewesen, die der Sache und nur der Sache und ihrem innersten Wesen galt und darum dauert und wächst, solange die Sache und ihre Wesenheit dauert, und mit den Jahren an immer größerer, innigerer Bedeutung zunimmt, sondern ihren Ursprung nur dem Reiz der Neuheit und der hervorspringenden Beziehung verdankte, die der Anfang des Werkes für unsere Persönlichkeit gehabt, und daher schwindet wie jener Reiz abnimmt und die Beziehung unserer Persönlichkeit sich in der Alltäglichkeit verliert. — Und Israel? Wehe ihm, wenn die Begeisterung für seinen Beruf und die Freudigkeit für dessen Erfüllung nicht לְשֵׁם שָׁמַיִם [10], nicht in dem einen einzigen Quell ihren Ursprung nehmen, der ewig ist, wie der Born aus dem er quillt, nicht in Gott und unseren Beziehungen zu ihm, und in dem Ursprung unseres Berufes aus ihm, und in der Bedeutung unserer Tätigkeit für ihn wurzeln, und dann ewig bleiben wie Gott und frisch wie alles Leben, das aus ihm springt, und ewig jung, wie jede Kraft, die er spendet. Wehe ihm, wenn seine Begeisterung und seine Freudigkeit [11] שֶׁלֹּא לִשְׁמָהּ, an äußeren Zufälligkeiten, an wesenlosen Vergänglichkeiten ihren Ursprung nehmen, und darum vergehen wie diese schwinden, wie diese den Reiz der Neuheit verlieren, wie diese sich in ihrer Blöße und Unzulänglichkeit erweisen! Wehe uns — wenn unser ganzes Verhältnis zu Gott und seinem heiligen Gesetz uns nur ein Schauspiel ist, das durch Veränderung spannen und durch Wechsel steigern und durch immer neue Erfindungen unser Interesse fesseln muss, wehe uns, wenn [12] וְנוֹשַׁנְתֶּם בָּאָרֶץ , wenn wir stumpf, träg, gleichgültig, mechanisch, wenn wir „alt“ werden in unserem Beruf!
Nicht umsonst tritt das göttliche Gesetz durch so viele seiner Institutionen immer wieder und wieder dieser dreifachen Gefahr des „וְנוֹשַׁנְתֶּם“ entgegen, hat nicht umsonst durch so viele Gesetze dafür gesorgt, dass Israel nie seines Ursprungs, nie seines wahren Verhältnisses in Gegenwart und Zukunft vergesse, und zu immer frischer Begeisterung für seinen Beruf geweckt werde. Wie sein tägliches, ja täglich zweimaliges Opfer Israel immer wieder und wieder das alte, erste Opfer wiederholen lässt, in welchem es als das [13] שָׁנָה“ „שֶׂה“ „תָּמִים“ „זָכָר“ „בֵּן als das „frische“ „männliche“ „junge“ „Glied der Gottesherde“ zuerst sich seinem „Hirten“ in der Stunde der Erlösung darbot: so soll es seine frische männliche Jugend sich ewig bewahren, soll ewig seinem Gott gegenüber „jung“ bleiben und mit immer frischer, männlicher Begeisterung seiner Leitung folgen. [14] יְצִיאַת מִצְרַיִם , dieses älteste Faktum der jüdischen Geschichte, in welchem unser Ursprung und unser Beruf wurzelt, wird nie alt in unserem Bewusstsein. Nicht nur bei jährlicher Gedächtnisfeier, wie die Sonne steigt, wie die Sonne fällt, erheben wir uns zur Tat, gehen wir zur Ruh, lebt das Wort in unserem Mund; mit jedem Tag gehen wir im Geiste mit unseren Vätern und Müttern aus Mizrajim, stehen wir im Geiste mit den Vätern und Müttern am Meer und jede Bitte in jeder Gegenwart knüpft, [15] סוֹמֵךְ גְּאֻלָּה לִתְפִלָּה , an das Gedächtnis dieser alten Erlösung an. An dem Tag, da Gott Israel erlöste, bestimmte er, dass diese Erlösung als Zeichen und Gedächtnis an Hand und Haupt[16] uns durchs Leben begleite, und wie die Priester die Bundeslade für die Gesamtheit, so jeder Jude in verjüngter Bundeslade das Dokument dieser Erlösung und des daraus gegründeten Bundes mit sich durchs Leben führe.
Und wie nie Jahrtausende zwischen uns und unserem Ursprung liegen, wir nie „alt“ hinsichtlich unseres Ursprungs werden sollten, so sollen auch die Jahre und Jahrhunderte uns nie die Erkenntnis unserer wahren Stellung zu unserem Geschick verhüllen, so sollen wir nie „alt“ werden in unserem Besitz. Nicht nur werden wir bei jedem Erstling unserer Familien und unserer Güter jener Stunde ein- gedenk, in welcher wir unter dem Klageschrei der in ihren Erstgeborenen getroffenen Ägypterfamilien schauernd gelernt, da nur das in treuem Gottesgehorsam Gott Geweihte zum heiteren Leben erblüht, alle Klugheit, alle Macht, alle Kunst und Erfindung, alle Hoheit und Größe — das aber nicht vom Untergang zu retten vermag, über welches gottvergessener Trotz sein hochmütiges „Mein!“ ausspricht; nicht nur werden wir durch die Dahingebung sofort des ersten unserer Früchte, unserer Teige, immer aufs Neue daran erinnert, wem wir alles unsrige verdanken: faktisch soll Israel nie ununterbrochen im Gebrauch seiner Welt, im Besitz seines Landes sein, soll periodisch seine Welt und sein Land dem Einen zu Füßen legen, als dessen Lehnsträger es sich als Mensch der Welt und als Volk des Bodens erfreut, auf dass es nie „alt“ werde im Besitz, dass es das nie als sein Eigentum zu betrachten beginne, was nur ein zu bestimmten Zwecken anvertrautes Heiligtum ist. Keine sieben Tage ununterbrochenen Gebrauch der Welt, keine sieben Jahre ununterbrochenen Besitz des Bodens, nicht über siebenmal sieben Jahre hinausreichende Disposition über Personen und Güter —יוֹבֵל, שְׁמִטָּה ,שַׁבָּת [17]— „denn mein ist das Land; denn Fremdlinge und Beisassen seid ihr bei mir!“ כִּי לִי הָאָרֶץ ,כִּי גֵרִים וְתוֹשָׁבִים אַתֶּם עִמָּדִי![18]
Eins aber ist es, das das Judentum seinen Bekennern nie alt werden lässt, das es zu einem ewig unerschöpflichen Born immer neuer Freuden und neuer Seligkeiten gestaltet, das immer neue Begeisterung spendet und jeden Tag, jede Stunde als eine neue Gelegenheit zur Erfüllung der jüdischen Aufgabe mit einer Freudigkeit ergreifen lässt, als ob so eben das [19] „אָנֹכִי“ vom Sinai getönt. Eins vor allem ist es, dem Israel seine ewige Jugend verdankt und das auch jeden einzelnen mit ewiger Jugendfrische zu lohnen weiß, der sich ihm mit Hingebung vermählt, und dieses eine ist — [20] תּוֹרָה, ist die Wissenschaft der göttlichen Lehre, zu welcher alle geladen sind. Schon die Art der Mitteilung, die Gott für die Erhaltung und Pflege seiner Lehre gewählt, die Beschränkung auf das Mündliche, wodurch die Wissenschaft nicht dem toten Buchstaben, sondern dem lebendigen Worte abgelauscht, nicht dem toten Buchstaben, sondern der lebendigen Jüngerbrust anvertraut werden musste[21], und die diese Wissenschaft so sehr auf den lebendigen, persönlichen Verkehr des Lehrenden und Lernenden hingewiesen, dass selbst nachdem im Drang der Zeiten das Mündliche in Schrift fixiert worden, sie doch nicht ganz in den Buchstaben aufgeht, fort und fort in beständigem Wechselwirken zwischen Lehrer und Schüler geschöpft und entwickelt werden will, Lehrer und Schüler noch heute zu den Füßen der lehrenden Altmeister lädt gemeinsam ihre Überlieferungen zu „lernen“,— schon diese ganze Art der Mitteilung rief das regeste Geistesleben wach, setzte ewige Jugendfrische zur ersten Bedingung, und erzeugte sie indem sie sie forderte. Nur dem Gedächtnis zur Bewahrung und der Denkkraft zur Reproduzierung und Entwicklung überwiesen, forderte sie von Lehrern und Jüngern in jedem Augenblick das regeste Interesse und die frischeste Hingebung; sie war verloren, wenn sie in einem Moment aufhörte in lebenswarmer Menschenbrust lebendig zu werden, und sie lud das ganze Volk zu ihren Trägern, damit sie umso sicherer erhalten blieb. Und nun ihr Inhalt, dem an Unerschöpflichkeit nur das zweite Gotteswerk, die Natur fast gleichkommt, der gleich ihr dem Forscher immer neue Wahrheiten, immer neue Schönheiten, immer neue Tiefen, immer neue Fragen bietet, der nun bereits während mehr als dreitausend Jahren so vielen dahingegangenen Geschlechtern der Entwicklungsboden eines reichen Geisteslebens gewesen und noch immer bereit ist die Forschung der Enkel und Urenkel mit neuen frischen Blüten, mit neuen leuchtenden Schätzen zu lohnen ; — ihr Inhalt, für dessen Umfang [22] אֲרֻכָּה מֵאֶרֶץ מִדָּה keine Hyperbel ist, der in Wahrheit Himmel und Erde umspannt und insbesondere das Menschenleben mit all den Mannigfaltigkeiten seiner individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungen würdigend und gestaltend umfasst, dessen Kommentar Natur und Geschichte bildet und dem jede Erscheinung der Natur und jeder Pendelschlag an der Uhr der Zeiten neuen Reiz und neues Licht abgewinnt; ihr Inhalt, der ihre Jünger nicht zu leben- und wirklichkeitsberaubten Abstraktionen und Nebelgedanken lädt dessen Objekt die vollste, frischste, lebendigste Wirklichkeit ist, dessen vollste Erforschung jene einzige, höchste Stufe wahrhaftiger Erkenntnis verspricht, die sich wohl nicht treffender als mit den Worten bezeichnen ließe, die von unseren um den Sinai versammelten Vätern einst galten רוֹאִים אֶת הַקּוֹלוֹת [23]: [24] רוֹאִים אֶת הַנִּשְׁמָע וְשׁוֹמְעִים אֶת הַנִּרְאֶה alles Begriffene zu sehen und alles Sichtbare zu begreifen — : wie ist dieser Inhalt, auch bloß als Lehre, als Theorie, als Wissenschaft, der Talisman einer ewig frischen, geistigen Jugend! Und er ist ja mehr, er ist ja in Wahrheit eine Theorie, die in jedem Augenblick die Praxis fordert, eine Lehre die in jedem Augenblick das Leben gestalten will, die in jedem Augenblick uns aufs Neue mit dem ganzen Ideal unserer Vollkommenheit im Einzel- und Gesamtheitsleben erfüllt, uns damit einen Maßstab in Händen gibt, dem noch keine Vergangenheit, keine Gegenwart genügt, der uns ewig vorwärts lädt, fortzuschreiten in Selbstveredelung, Lebensläuterung, Pflichterfüllung, und jeden neuen Tag, jeden neuen Augenblick als einen von Gottes Gnade gewährten Moment mit Begeisterung ergreifen lässt, zu lernen, als ob wir noch nie gelernt, zu üben, als ob wir noch nie geübt, und unseren „Hirten“ in ewig „frischer, männlicher Jugend“ nachzufolgen! —
תּוֹרָה וּמִצְווֹת[25] hatten Israel vor dem וְנוֹשַׁנְתֶּם, vor dem Fluche des „Alterns“ schützen sollen, hatten es als das unsterbliche Volk in ewigem Jugendglanz in der Mitte der, der geschichtlichen Vergänglichkeit hinfallende Nationen erhalten sollen. Wir verschmähten die מִצְווֹת, wir verließen die תּוֹרָה da sank unser Staatenglück in Trümmer, in dem wir verblendet den Boden unseres ewigen Lebens zu finden vermeinten, — und unser irdisches Paradies schloss seine Pforten hinter uns zu. Da ergriffen wir, was wir im Glück verkannt und verschmäht, da ergriffen wir תּוֹרָה וּמִצְווֹת wieder — und mit verjüngender Kraft hoben sie uns aus dem Grab unseres nationalen Untergangs und zeigten sich allein genügend, ohne Macht, ohne Land, ohne Freundschaftsband mit den Völkern der Erde, uns, allein vor dem Schicksal des וְנוֹשַׁנְתֶּם zu bewahren, dem Volk nach Volk auf der Bühne der Geschichte unrettbar entgegeneilt. Sie sind das Geheimnis unserer jugendfrischen Erhaltung bis auf den heutigen Tag. Wollen wir zum zweiten Mal diesen Talisman verschmähen? Wollen wir an Jeruschalaim-Zions Grab die Warnung vor der Verirrung überhören, die der Väter Glück begrub? Wollen wir „Kind und Kindeskinder zeugen und „alt“ geworden sein auf Erden? — —
[1] Deuteronomium 4:25; „und ihr werdet alt geworden sein“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[2] Die Thora
[3] angeblich
[4] Erobertes Judäa
[5] Hier greift Rabbiner Hirsch die in seiner Zeit aufgekommene „wissenschaftliche Bibelkritik“ an, die die göttliche Abstammung der Thora verneint. Er hält Ihnen hier den Wochenabschnitt „Bechokotai“ (Levitikus 26:3-46) entgegen, in der die Prophezeiung der Zerstreuung bereits angekündigt wird und auf diese Prophezeiung seitens der „Bibelkritik“ noch keine Antwort gefunden wurde. S. auch Fußnote 7.
[6] Genesis 49:1, “in der Hinterlassenschaft der Tage“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[7] Deuteronomium 4:25-31
[8] Jeremia 2:2
[9] Mishne Thora 6:1; „Ein Alter heißt der, welcher Weisheit besitzt“(Übersetzung Leon Mandelstamm)
[10] Im Namen Gottes
[11] Nicht in Gottes Namen
[12] Deuteronomium 4:25;
[13] Exodus 12:5; „Ein vollständiges Lamm, männlich, jährig, soll es euch sein;“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[14] Der Auszug aus Ägypten
[15] Berachot 4b:6; Wer ist ein Kind der zukünftigen Welt? – der den Erlösungssegen an das Abendgebet anschließt. (Übersetzung L. Goldschmidt)
[16] Mit Teffilin
[17] Schabbat (alle 7 Tage), Schmitta (alle 7 Jahre), Jovel (das 50. Jahr nach 7×7 Schmittajahre)
[18] Levitikus 25:23
[19] Das erste Gebot (der 10 Gebote)
[20] Thora (hier das Lernen)
[21] Nach Rabbiner S.R. Hirsch s“l geht die mündliche Lehre der schriftlichen voraus
[22] Hiob 11:9; „Länger als die Erde ist ihr Maß“ (Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bernfeld)
[23] Exodus 20:15; “Und das ganze Volk sah die Stimmen“ (Übersetzung Rabbiner S.R. Hirsch)
[24] Malbim zu Exodus 20:15; „sah die Stimmen“ bedeutet: sie sahen das Gehörte und hörten das Gesehene
[25] Lehre und Gebote