Wer die Wahl hat – hat die Qual

Von Michael Bleiberg

Im Folgenden stelle ich die Meinung zweier Rabbiner des 19. Jahrhunderts gegenüber, die beide in Frankfurt am Main tätig waren. Der eine Artikel ist von Rabbiner Leopold Stein (1810 bis 1882), ein überzeugter Vertreter der Reformbewegung. Er hat während seiner Amtszeit in Frankfurt seine Predigten unter dem Titel „Koheleth, Eine Auswahl gottesdienstlicher Vorträge“ gesammelt. Aus dieser Sammlung habe ich die Predigt „Der Schaden am Hause“, gehalten am Schabbat Hagadol 5605 (1845) in der Hauptsynagoge zu Frankfurt am Main, ausgewählt.

Der andere Artikel, wie sollte es anders sein, entstammt der Feder von Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808 bis 1888). Er hat während seiner Tätigkeit in Frankfurt am Main eine Monatszeitschrift mit dem Titel „Jeschurun“ herausgegeben. Dort habe ich den Artikel „Der Jude und seine Zeit“, erschienen im Oktober des Jahres 1854, gefunden.

Reform

In seiner o. e. Predigt bezieht sich Rabbiner Stein auf den Wochenabschnitt Tasria/Mezorah, in dem darüber gesprochen wird, wie sich ein Priester zu verhalten habe, wenn ihm bekannt würde, dass ein eventueller Aussatzschaden an einem Haus vorhanden sei. Er zitiert die Bibelstelle wie folgt: „Da befehle der Priester, dass man das Haus räume, bevor der Priester eintritt, den Schaden zu besehen, damit nicht Alles, was im Hause, unrein werde; dann trete der Priester ein, das Haus zu besichtigen. Betrachtet er nun den Schaden, und siehe da! der Schaden haftet in den Wänden des Hauses……. Dann trete der Priester aus dem Hause an die Tür und verschließe das Haus auf sieben Tage.  Kommt nun der Priester am siebten Tage wieder und schaut nach und siehe da! der Schaden hat um sich gegriffen an den Wänden des Hauses, da Befehle der Priester, dass man die Steine herauslöse, woran der Schaden ist, und sie hinauswerfe vor die Stadt an einen unreinen Ort. –  Und man nehme andere Steine und bringe sie an die Stelle jener Steine, und andere Lehmerde nehme man und bestreiche das Haus. – Kommt nun der Priester wieder und schaut nach, und siehe da! der Schaden hat weiter gegriffen am Hause, dann ist es ein unheilbarer Aussatz am Hause; unrein ist es! Und man reiße nieder das Haus, seine Steine, sein Gebälk und allen Lehm des Hauses, und bringe es vor die Stadt hinaus an einen unreinen Ort. – Kommt aber der Priester und schaut nach, und siehe da! der Schaden hat nicht um sich gegriffen am Haus, nachdem man das Haus bestrichen hatte, so spreche der Priester das Haus rein, denn geheilt ist der Schaden.“

Rabbiner Leopold Stein kommt in seiner Predigt zu dem Schluss, dass das jüdische Haus, das Religionsgebäude, einen Schaden bekommen hat, und dass man schnellstmöglich die befallenen Steine aus seinen Mauern zu entfernen hätte, damit nicht das gesamte Haus für unrein, defacto für baufällig erklärt werden müsste. Mit anderen Worten, Rabbiner Stein sieht die jüdische Religion als ein Baukastensystem. – Aber ist sie das wirklich?! Und er fragt weiter sinngemäß: „Was gebietet uns Gott zu tun, wenn sich ein Schaden am Gebäude der Religion zeigt?“ Und er beantwortet seine Frage sogleich:

  1. In der Beurteilung, welche Steine schadhaft und welche gut, höchst vorsichtig sein, dann
  2. vor der Ausbrechung der wirklich Schadhaften nicht zurückschrecken, endlich
  3. zur Erhaltung der noch guten Steine eifrig und einmütig zusammenhalten.

Im weiteren Verlauf seiner Predigt, spricht er sich gegen die Eiferer aus, die das gesamte Haus am liebsten komplett abreißen würden und mahnt davor, die „guten Steine“ wie er sie nennt, gleichfalls abzutragen. Er fährt fort: „Und fragt ihr, was sind das für gute Steine, die zu retten seien, dass sie die Zerstörung nicht mit ergreife? So bin ich nicht verlegen, euch die Antwort zu geben!   Da ist vor allem die Einführung unserer Söhne in den Bund Abrahams durch das Zeichen des Bundes (Beschneidung Anmerkung des Verfassers), das ist ein Grundstein des Judentums, ihn müssen wir zu erhalten suchen. Da ist der Sabbath, der ist ein אבן בוחן Probierstein unseres Glaubens an den Einigen Gott, פנת יקרת מוסר מוסר ein köstlicher Eckpfeiler, mit einem starken Grunde, ihn müsstet ihr besser feiern. Da ist der Versöhnungstag, ein Tragbalken des Judentums, der unserer Religion Dauer und Sicherheit verleiht, der unser Verhältnis zu Gott als ein inniges, kindliches, unmittelbares feststellt, ihn müssen wir hochhalten. Da sind die übrigen Feste mit ihren erhabenen Erinnerungen, ihre Stützen dürfen uns nicht fehlen. Da ist der öffentliche Gottesdienst, ein vorzüglicher Grundpfeiler, ihn müssen wir zu befestigen suchen; denn sowie im uralten Judentume die Opfer den bedeutendsten Teil des Zeremonialgesetzes einnehmen, weil sie öffentliche Gottesverehrung enthalten, so müssen jetzt die Gebete unsere besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, die Verschönerung des Gotteshauses, die Verherrlichung des Gottesdienstes und seine Reinigung von tiefeingewurzelten Mängeln muss uns am Herzen liegen, damit wir die Gemüter seligen am heiligen Orte. Und neben der öffentlichen Gottesverehrung muss die darniederliegende häusliche Andacht wiedererwachen, dass man merke man sei im Hause eines Israeliten.“

Aus „Koheleth“, Eine Auswahl gottesdienstlicher Vorträge von Rabbiner Leopold Stein
Quelle: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/freimann/content/pageview/6912453

Orthodoxie

Dem stehen die Ansichten von Herrn Rabbiner Samson Raphael Hirsch entgegen: Er meint, man müsse zuerst folgende Frage für sich beantworten. Der häufig zitierte Bibeltext: „Und Gott sprach zu Moscheh wie folgt, womit alle Gesetze der jüdischen Bibel beginnen, ist es eine Wahrheit?“ Und er fährt in diesem Artikel fort, wenn man diese Frage mit ja beantwortet, „so müssen wir das Gesetz halten, müssen es erfüllen, unverkürzt, ungemäkelt, unter allen Umständen es halten; zu allen Zeiten, muss uns dieses Gotteswort das ewige, über alles Urteil des Menschen ewig erhabene Maß sein, dem gemäß wir all unser Tun jederzeit gestalten müssen …“ Man könnte auch sagen, „und Gott sprach zu Moscheh wie folgt“, ist nur eine Floskel. – Ja, aber dann, wer wollte festlegen, bestimmen welches dieser Gesetze uns Juden gültig bleiben sollte, welches nicht?! Welches wir unseren Kindern anheimstellen wollten? Es würde Tür und Tor der willkürlichen Interpretation des Bibeltextes geöffnet werden.

Der Gedanke der damaligen und heutigen Reformbewegung ist immer der gleiche. Wir müssen das Judentum dem Zeitgeist anpassen. Der Jude, seine „Religion“, darf doch dem Fortschritt nicht entgegenstehen. Die Zeiten ändern sich doch?! In dem o. e. Artikel Rabbiner Hirschs schreibt er: „Lasset sehen! Zeitgemäßes Judentum – zeitgemäß – also: den in einer Zeit herrschenden Ansichten der Menschen, den von den Verhältnissen einer Zeit erzeugten Bedürfnissen gemäß anpassen, – das wäre das Ziel? – Wenn wir unser Judentum nach dem in unserer Zeit herrschenden Ansichten unserer nicht jüdischen Mitbürger gestalten, … dann, nicht wahr, haben wir die moderne Weisheit gefasst und geübt? – Lasset sehen! War das Judentum je zeitgemäß? Kann das Judentum je zeitgemäß werden? Konnte es je so gewesen sein? Wird es je es werden?“

Nach einer Aufzählung von Beispielen begonnen mit Abraham, dessen Verdienst es war, eben gerade nicht zeitgemäß gelebt zu haben, sonst wäre ja das Judentum gar nicht erst entstanden, über die Makkabäer, die sich gegen ein hellenistisches zeitgemäßes Leben wehrten, hin zur Zerstörung des Tempels durch die Römer und der Zerstreuung der Juden unter die Völker, waren unsere Vorväter nicht bereit, Sitten und Gebräuche gastgebender Länder anzunehmen. „War je in allen diesen Jahrtausenden das Judentum zeitgemäß, entsprach es je den Ansichten der herrschenden Zeitgenossen, war es je nicht der Missdeutung und Verkennung ausgesetzt, war es je bequem und leicht, Jude und Jüdin zu sein?“ Und jetzt wäre also die Zeit gekommen, dass Judentum zeitgemäß zu gestalten?“

„Aber vor Allem, was wäre das für ein Judentum, wenn wir es zeitgemäß gestalten dürften! Dürfte der Jude sich jeweilig sein Judentum zeitgemäß gestalten, wahrhaftig, dann bräuchte er es überall nicht mehr, dann verlohnte es sich überall nicht mehr der Mühe, vom Judentum zu reden, dann nehme man das Judentum und werfe es zu den alten Ausgeburten des Wahnes und des Aberwitzes, und schweige von Judentum, von jüdischer Religion!“, so die Kritik Rabbiner Hirschs an den Reformern.

„Von Anfang an hat Gott das Judentum und somit seine Bekenner in Gegensatz zu den Zeiten gesetzt. Jahrtausende lang war das Judentum der einzige Protest gegen eine ganze heidnische Welt, und wenn dieser Gegensatz von Jahrhundert zu Jahrhundert abgenommen, so war dies nicht, weil das Judentum sich den nichtjüdischen Zeitverhältnissen gemäß gestaltete, sondern weil immer mehr und mehr Keime des jüdischen Geistes, Funken vom jüdischen Gottesworte im Schosse der nichtjüdischen Welt aufgegangen, weil immer mehr und mehr das jüdische Gotteswort seine stille Mission auf Erden erfüllt.“

Aus „Gesammelte Schriften“, Band 1
Quelle: https://archive.org/search.php?query=Hirsch%2C+Gesammelte+Schriften+1

Fazit

Da Rabbiner Stein so mutig war, festzulegen, was seiner Meinung nach ins nächste Jahrhundert des Judentums gerettet werden sollte, wie Beschneidung, Festtagszeremonien, und Hallelujagesänge, bleibt die Frage, was möchte er über Bord werfen? Welches sind die „schadhaften Steine“, die er ausgetauscht sehen möchte? Vielleicht die Kaschrutbestimmungen, die Niddavorschriften der jüdischen Frau, das Studium des Talmuds und seiner Exegeten? Wo wollen wir anfangen und wo wollen wir aufhören?

Interessanterweise haben auch die Rabbiner der Reformbewegung zu Zeiten Rabbiner Hirschs ihre Schmerzgrenzen. So war Rabbiner Abraham Geiger (1810 bis 1874) nicht damit einverstanden, den Schabbat auf den Sonntag zu verlegen und ein Namensvetter Rabbiner Hirschs, Rabbiner Dr. Samuel Hirsch (1815 bis 1889), war der Meinung, dass die Emanzipation des Juden nicht durch die Taufe ermöglicht werden sollte. Auch heute finden wir Rabbinen, die Trauungen gleichgeschlechtlicher Paare vornehmen und das Tragen einer Kopfbedeckung ablehnen.  – Das ist es, was Rabbiner Hirsch mit „Aberwitz“ bezeichnet, der nichts mehr mit dem Judentum gemein hat.

Jeder beantworte sich die Frage selbst: „Ist das Judentum Gottesstiftung, so ist es bestimmt, die Zeiten zu erziehen, nicht aber sich von den Zeiten erziehen zu lassen.“

Rabbiner Hirsch schließt seinen Artikel mit dem Gedanken: „Dann, dann – wenn die Zeiten gottgemäß geworden sind, wird auch das Judentum zeitgemäß sein…. Je fester der Jude auf dem Felsen seines Judentums steht,… je geneigter wird er überall sein, dass den jüdischen Wahrheiten entsprechende wahrhaft Wahre, wahrhaft Gute anzunehmen….Nie und nimmer wird er auch nur eine Faser seines Judentums opfern, nie und nimmer wird er sein Judentum zeitgemäß gestalten, sondern wird es in jeder Zeit  als seine Aufgabe betrachten, vom Standpunkt seines Judentums die Zeit und ihre Verhältnisse zu würdigen, um in jeder Zeit, mit den von jeder Zeit gewährten neuen Mitteln, in den von jeder Zeit gestalteten neuen Verhältnissen den Geist seines alten Judentums in immer neuer Blüte zu entfalten, und die Aufgabe seines alten Judentums in immer reicher Fülle, mit immer neuer Treue, voll und ganz zu lösen.“

Berlin, den 5. Mai 2021 – 23. Ijar 5781

 

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