zu den folgenden Artikeln „Offener Brief“ an Rabbiner Bamberger und dessen „Offene Antwort“ (erscheint im nächsten Monat) an Rabbiner Hirsch

Von Michael Bleiberg

Am 28. Juli 1876 wurde auf Drängen Rabbiner Hirschs und des Reichtstagsabgeordneten des Deutschen Kaiserreiches Eduard Lasker[1] das sogenannte „Austrittsgesetz“ verabschiedet. Das „Austrittsgesetz“ ermöglichte es von nun an, dass Juden im Deutschen Kaiserreich (1871-1918) die Zugehörigkeit zu einer Religionsgruppe (Reform oder Orthodox) frei wählen konnten. Bis dato gab es für Juden nur die Möglichkeit der Zugehörigkeit zur sogenannten „Einheitsgemeinde“. Die Vorstände der „Einheitsgemeinden“ setzten sich zunehmend aus Vertretern der nichtorthodoxen Judenschaft zusammen.  Das hatte zur Folge, dass in zunehmenden Maße die orthodoxen Einrichtungen, wie z.B. Mikwe, koschere Fleischerei und Bäckerei usw., abgeschafft oder nicht mehr bzw. ungenügend finanziell unterstützt wurden. In den Synagogen wurden Orgeln und gemischte Chöre eingeführt, die die Teilnahme orthodoxer Juden am Gottesdienst verhinderten. Aus den Gebetsbüchern wurden die Teile, die sich auf die Erwartung des Meschiachs, des Wiederaufbaus des Tempels mit seinen Opferaufgaben, die Rückführung der „Verstreuten“ ins Heilige Land usw. ersatzlos gestrichen. Deshalb organisierten sich die orthodoxen Juden schon seit Mitte des 19. Jhdts. in eigenen Verbänden, die neben der Einheitsgemeinde existierten. Im Kaiserreich, wie auch heute in Deutschland, wurde die Kirchensteuer über den staatlichen Fiskus erhoben und eingezogen. Die Kirchensteuer wurde dann nach einem bestimmten Proporz den jüdischen Gemeinden staatlicherseits überwiesen. Somit finanzierten auch die orthodoxen Juden den  – aus ihrer Sicht – Verfall des Judentums. Dazu kam, dass die Orthodoxen zusätzliche Mittel aufwenden mussten, um in den privaten Parallelorganisationen die für sie notwendigen orthodoxen Einrichtungen und das dafür notwendige Personal zu unterhalten.

Als es sich anbahnte, dass das Gesetz im Reichstag eine Mehrheit finden würde, begannen die Vorstände der Gemeinden den orthodoxen Gemeindemitgliedern Zugeständnisse zu machen, da sie einen massenhaften Austritt ihrer orthodoxen Mitglieder aus der „Einheitsgemeinde“ hin zu den „Austrittsgemeinden“ zu befürchten hatten. So entstanden unter den Orthodoxen verschiedene Meinungen darüber, ob sie Mitglied der Austrittsgemeinden werden sollten, oder – und mit welchen Garantien seitens der Vorstände – ein Verbleib in den Einheitsgemeinden für sie möglich wäre.

Diese beiden Strömungen in der Orthodoxie in Deutschland wurden durch die Rabbiner Samson Raphael Hirsch aus Frankfurt am Main einerseits und andererseits durch den Würzburger Rav, Rabbiner Seeligmann Bär Bamberger[2] präsentiert.

Während Rabbiner Hirsch einen Verbleib der orthodoxen Juden in den Einheitsgemeinden für unmöglich erachtete, war Rabbiner Bamberger der Ansicht, dass, wenn die Vorstände entsprechende Garantien zur Förderung auch des orthodoxen Judentums abgeben würden, man in den Einheitsgemeinden verbleiben sollte. Die Mehrheit der orthodoxen Juden folgte den Vorstellungen von Rabbiner Bamberger und blieben Mitglieder der Einheitsgemeinde. Andererseits bildeten sich in folgenden Städten Austrittsgemeinden parallel zu den Einheitsgemeinden: Berlin, Frankfurt am Main, Heilbronn, Kopenhagen, Karlsruhe, Köln, Königsberg (Preußen), Mainz, München, Nürnberg,  Wiesbaden.

Die Auseinandersetzung über das pro und contra um den Verbleib in den Einheitsgemeinden spiegeln besonders zwei Zeitdokumente wieder, die in dieser Ausgabe des Jeschurun.online und in der nächsten wiedergegeben werden. Zum einen habe ich in der Freimann-Sammlung der Universität Frankfurt am Main einen „Offenen Brief“ gerichtet an Rabbiner Bamberger von Rabbiner Hirsch gefunden und ebenfalls ist die Erwiderung Rabbiner Bambergers an Rabbiner Hirsch als „Offene Antwort“ dort hinterlegt.

Die Auseinandersetzung der beiden Rabbinen wird auf einem sehr hohen rabbinischen Niveau ausgetragen. Trotz meinem größten Bemühen die Texte zu vereinfachen und zu erklären, setzt das Studium der Texte einige Kenntnisse in Talmud, Thora und Halacha voraus.

Nach meiner Recherche hat nach Inkrafttreten des Gesetzes Herr Rabbiner Hirsch öffentlich durch Predigt und Publikation die orthodoxen Gemeindemitglieder in Frankfurt am Main aufgerufen, die „Einheitsgemeinde“ zu verlassen und der „Austrittsgemeinde“ beizutreten[3]. Daraufhin wandten sich die Vorstände der Einheitsgemeinde an Rabbiner Bamberger in Würzburg mit der Bitte, zu prüfen, ob, und wenn ja, unter welchen Bedingungen ein Verbleib der orthodoxen Juden in der Einheitsgemeinde möglich wäre. Rabbiner Bamberger folgte dieser Aufforderung dahingehend, dass er ein Gutachten verfasste, das in der „Frankfurter Börsen- und Handelszeitung“ veröffentlich wurde. Auch reiste Herr Rabbiner Bamberger zu Gesprächen mit den Vorständen der „Einheitsgemeinde“ nach Frankfurt. Daraufhin verfasste Herr Rabbiner Hirsch einen „Offenen Brief“ an Rabbiner Bamberger der darauf wiederum mit einer „Offenen Antwort“ Herrn Rabbiner Hirsch entgegnete.

In der Auseinandersetzung der beiden Rabbinen geht es u.a. darum zu klären, ob es Herrn Rabbiner Bamberger überhaupt erlaubt gewesen war, sich in die Angelegenheiten der Gemeinde in Frankfurt einzumischen. Es geht darüber hinaus darum zu klären, ob nichtorthodoxe Juden, wie Rabbiner Hirsch meint, als Minim (vom Judentum Abgefallene), die schlimmer noch als Götzendiener (Heiden) aus der Sicht des Judentums, zu betrachten sind. Es gilt auch zu klären, ob nicht etwa ein Beth Din (Rabbinergericht), so Rabbiner Bamberger, einzuberufen gewesen wäre, um die Frage des Verbleibens oder Austritts aus der „Einheitsgemeinde“ zu klären.

Beide Rabbinen tragen, wie ich finde überzeugende Argumente für den Verbleib bzw. den Austritt vor. Die Fragen, die sie aufwerfen sind höchst aktuell, da wir orthodoxen Juden ja auch heute in Einheitsgemeinden zusammen mit nichtorthodoxen Juden leben. Die Vorstände unserer Gemeinden sind damals wie heute nicht fromm und haben vom orthodoxen Judentum nur geringe Kenntnis. Aus meiner Sicht, hier und heute in Berlin, muss ich feststellen, dass das Gemeinderestaurant geschlossen wurde, die koschere Fleischerei wurde geschlossen, die Mikwe der Synagoge Joachimtaler Str. wird seit Jahren renoviert, ohne einen Ersatz für die Übergangszeit zur Verfügung zu stellen, und ist z. Zt. geschlossen. Es gibt nirgends in Deutschland eine Jeschiwa oder ein Kollel. Versuche eine Jeschiwa von privater Seite, so durch „Lauder“ und „Chabad“, hier in Berlin aufzubauen sind gescheitert, da von Seiten der  Gemeindevorstände daran kein Interesse bestand. In den „jüdischen Schulen“ hier in Berlin (Grundschule und Gymnasium) unterrichten nichtjüdische Lehrer. Wie ich mich erinnere, wurde vor einigen Jahren von der Grundschule zu einem Grillfest am Tescha-Be Av aufgerufen. Junge orthodoxe Juden, die vor mehr als 20 Jahren hier in Berlin gelebt haben, haben Berlin verlassen und sind nach Antwerpen, Straßburg, oder Israel ausgewandert, da Ihnen für die Erziehung ihrer Kinder im orthodox-jüdischen Sinne hier in Deutschland nichts angeboten wurde und wird.

Obwohl wir orthodoxe Rabbiner hier in Deutschland haben, die sich in der „Orthodoxen Rabbinerkonferenz“ organisieren, sind von dort bis heute keine Initiativen zur Errichtung von Schulen im Sinne von Rabbiner Hirsch תורה עם דרך ארץ unternommen worden. Der Religionsunterricht an den existierenden „Jüdischen“ Schulen zeigt, dass die heranwachsenden jungen jüdischen Menschen, die sowieso den Besuch der Gotteshäuser bis auf wenige Ausnahmen meiden, nach der Bar-/Bat- Mitzwa den Synagogenbesuch aufgeben und kein Interesse am Judentum haben. Die Hirschinitiative e.V. setzt sich dafür ein, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

Wir bitten um Ihre Unterstützung!!

 

 

[1] Laut Wikipedia: eigentlich: Jizchak Lasker; * 14. Oktober 1829 in Jarotschin, Provinz Posen, heute Jarocin, Polen; † 5. Januar 1884 in New York

[2] Laut Wikipedia: geboren am 6. November 1807 in Wiesenbronn; gestorben am 13. Oktober 1878 in Würzburg

[3] In Frankfurt am Main bestand die „Austrittsgemeinde“, die „Israelitische Religionsgesellschaft“, bereits seit ca. 1850 parallel zur Einheitsgemeinde

  • Beitrags-Kategorie:Artikel