Rede, gehalten von Dr. Isaac Breuer, anlässlich der von der Rabbiner­Hirsch–Gesellschaft in Frankfurt a. M. zum 27. Tewet 5695 (1935) veranstalteten Jahrzeits–Gedenkfeier für Rabbiner Hirsch –זצ“ל.
Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift „NACHALAT ZWI“ Jahrgang 5, Heft 4/5/6, Januar/Februar 1935. Das Original finden Sie hier: https://sammlungen.ub.uni–frankfurt.de/cm/periodical/rpage/2553253.
Der Begriff דרך ארץ spielt hier eine wichtige Rolle. Deshalb habe ich den Mischnahtext (Pirke Avot 3:21) hier vorangestellt: רַבִּי אֶלְעָזָר בֶּן עֲזַרְיָה אוֹמֵר, אִם אֵין תּוֹרָה, אֵין דֶּרֶךְ אֶרֶץ. אִם אֵין דֶּרֶךְ אֶרֶץ, אֵין תּוֹרָה. Rabbiner Hirsch übersetzt wie folgt: „Rabbi Elasar, Sohn Asarjas sagt: Ohne Thora keine bürgerliche Lebensgemeinschaft, ohne bürgerliche Lebensgemeinschaft, keine Thora.“ In dem dazugehörigen Kommentar führt Rabbiner Hirsch aus: „Ohne Tora, ohne die durch die Gotteslehre vermittelte geistige Belehrung und sittliche Veredlung sind alle sonstigen Bemühungen, um die bürgerliche Lebensgemeinschaft auf Erden zu begründen, zu fördern und zu erhalten vergebens. Und ohne der Derech Erez, ohne gleichzeitige Pflege der bürgerlichen Lebensgemeinschaft entbehrt die geistige Belehrung und sittliche Veredlung durch die Thora ihren irdischen Halt, das Verständnis einen großen Teils der von ihr zu behandelnden Verhältnisse und einen ebenso großen Teil ihrer tatsächlichen Verwertung.“ Rabbiner Hirsch gilt als der Begründer der Neo-Orthodoxie des Judentums. Sie vermittelt das Studium der Thora mit allgemeinbildenden Fächern.
Der Artikel wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Ergänzungen versehen von Michael Bleiberg

I.

אָח֣וֹר וָקֶ֣דֶם צַרְתָּ֑נִי וַתָּ֖שֶׁת עָלַ֣י כַּפֶּֽכָה[1]

„Zwischen Vergangenheit und Zukunft hast Du mich eingeengt, hast aber auf mich Deine Hand gelegt!“ In diesem einen Satz spricht der königliche Sänger, auf sein eigenes Leben zurückblickend, das Geheimnis jeder großen, jeder geschichtlichen Persönlichkeit aus. In dem völlig irrealen Raum zwischen Vergangenheit, die nicht mehr ist, und Zukunft, die noch nicht ist, bewegt sich ihr Wirken, und nur Gottes auffangende, bewahrende und erhaltende Hand – כף[2] und nicht  [3]יד – ist es, die diesem Wirken eine die formerstarrte Vergangenheit auflockernde, eine die formentbehrende Zukunft gestaltende Folge gibt.

אָח֣וֹר וָקֶ֣דֶם צַרְתָּ֑נִי Eine große Persönlichkeit, hineingestellt zwischen Vergangenheit und Zukunft, kann nicht zeitlos dogmatisch, kann nicht als Individualität für sich, sondern kann nur geschichtlich, nur in Zusammenhang mit Vergangenheit und Zukunft gewertet werden, und  nicht einmal  darauf  kommt  es an, wie sie sich selber begriff oder wie sie von ihren Zeitgenossen begriffen wurde, ausschlaggebend ist vielmehr, was von ihrer Leistung Gottes Geschichte lenkende Hand aufnahm, um es zu einer geschichtlichen Leistung zu machen, die in einem gewissen Sinne die geschichtliche Vergangenheit neu belebt und die geschichtliche Zukunft vorwegnimmt. Jede große Persönlichkeit ist ein Wegweiser in die Geschichte: sie entwirrt die  verschlungenen Pfade der Vergangenheit, und sie führt zugleich in Neuland.

Gilt dies aber von allen großen Persönlichkeiten, so ganz besonders von den großen Persönlichkeiten des jüdischen Volkes. Versteht man unter Geschichte die restlose Ausmerzung der als fiktiv erkannten Gegenwart zugunsten der Vergangenheit und Zukunft, so ist das jüdische Volk mehr als alle anderen Völker das Volk der Geschichte. Nur der urgeschichtliche Mensch lebt in der Gegenwart. Mögen andere Volker von der Geschichte sich lossagen und mit Behagen in ihrer Gegenwart weilen: dem jüdischen Volk bedeutet seit zweitausend Jahren die Gegenwart nur – Galuth. Wie hat das jüdische Volk zweitausendjähriges Galuth tragen können? Weil es ganz und gar das Volk der Geschichte ist, das Volk der Geschichte des Gottesworts, und weil diesem Gotteswort das Galuth nur Übergang ist von glücklicher Vergangenheit zu glücklicher Zukunft.

Zahllos sind die jüdischen Menschen, die dem Gotteswort die ganze Kraft ihres Lebens geweiht haben. Jeden wahren Gedanken, den sie gedacht, bewahrt Gottes bergende Hand auf, denn sie haben die Geschichte des Gottesworts bereichert. Aber nur ganz wenige Persönlichkeiten hat uns Gott im Galuth geschenkt, die dazu berufen waren, nicht nur die Geschichte des Gottesworts zu bereichern, sondern dieser Geschichte selber einen Stoß zu geben der die Vergangenheit wachruft und zugleich die Zukunft anspricht und solchermaßen zwischen Vergangenheit und Zukunft neue Beziehungen schafft, die letzten Endes bestimmt sind, die Erlösung des jüdischen Volkes näher zu bringen.

Als eine solche Persönlichkeit begreifen wir Rabbiner Samson Raphael Hirsch זצ“ל, als eine durch und durch geschichtliche Persönlichkeit, eingeengt zwar zwischen Vergangenheit und Zukunft, aber von Gott begnadet, die Vergangenheit im Zeichen desויהי[4]  als ein lebendig Werdendes, die Zukunft im Zeichen des [5]והיה als ein lebendig Wirkliches zu erfassen und damit dem jüdischen Volk einen Weg in die Vergangenheit zu weisen, der zugleich ein Weg in die Zukunft ist.

II.

Jede große geschichtliche Persönlichkeit ist eine revolutionäre Erscheinung. Vermöge ihrer geschichtlichen Sendung steht sie irgendwie im Gegensatz zu den Zeitgenossen, und je bedeutender diese Sendung ist, umso nachhaltiger wirkt der Gegensatz und vererbt sich selbst noch auf die Nachfahren, bis die Sendung erfüllt ist und, was ehedem revolutionär war, zur Selbstverständlichkeit wird. Anders aber vollzieht sich eine Revolution im jüdischen Volk als bei den Völkern der Erde.

Jede Revolution bei den Völkern der Erde bedeutet einen Rechtsbruch. Das Recht der Völker ist kein ewiges Recht, sondern ein Produkt der zeitlich bedingten Meinungen über die Art des menschlichen Nebeneinander. Es wechseln aber diese Meinungen schneller, als das einmal gesetzte Recht sich zu ändern vermag, sodass allmählich ein Gegensatz zwischen ihnen und dem Recht entsteht. Wird der Gegensatz nicht rechtzeitig durch entsprechende Änderung des Rechts gemildert oder ganz aufgehoben, so bildet sich mehr und mehr zwischen dem Recht wie es der herrschenden Meinung entspricht, ein Spannungsverhältnis, das schließlich zu einer Entladung führt, die die Rechtsänderung durch mehr oder minder offenkundige Gewalt erzwingt.

Aber das Recht des jüdischen Volkes ist nicht der Inbegriff der Volksmeinung über das menschliche Nebeneinander, sondern der Inbegriff der Befehle Gottes, wie das Nebeneinander im jüdischen Volk zu regeln ist. Es gibt keine Revolution gegen die Thora, sowenig es eine Revolution gegen das Naturgesetz gibt. Die jüdische Geschichte ist eben die Geschichte des Volkes des Gottesworts, und jede Auflehnung gegen das Gotteswort bleibt Rechtsbruch und  kann durch keine Tatsachen, kann auch nicht durch Zeitablauf legitim werden. Wie also können im jüdischen Volk Revolutionäre auftreten, ohne zugleich als Rechtsbrecher von der Geschichte des Gottesworts gebrandmarkt zu werden?

Von den Tagen Jerobeams I.[6] bis zu Geiger und Philippson[7] hat das jüdische Volk Revolutionäre genug gehabt. Die jüdische Geschichte als Geschichte des Gottesworts bewahrt ihr Andenken als vollendete Rechtsbrecher, als Sündige, die viele zur Sünde verleiteten. Kennt die jüdische Geschichte auch legitime Revolutionäre?

Sie kennt sie. Es sind die ganz wenigen großen geschichtlichen Persönlichkeiten, von Gott dazu auserkoren, die Geschichte des Gottesworts mächtig  vorwärts zu treiben. Anders aber wirken die jüdischen Revolutionäre innerhalb der Geschichte des Gottesworts als die Revolutionäre der Völker der Erde.

Haben die Tatbestände des menschlichen Nebeneinander sich im Laufe der Zeiten wesentlich geändert, so kehren sich die Revolutionäre der Völker der Erde gegen das Recht, das diesen Tatbeständen nicht mehr entspricht, und zerbrechen es mit eiserner Faust und stellen neues Recht an seiner statt.

Aber die Revolutionäre des thoratreuen jüdischen Volks kehren sich nicht gegen Gottes Recht, sondern gegen die Tatbestände. Haben sich die Tatbestände des jüdisch–menschlichen Nebeneinander im Laufe der Zeiten dermaßen wesentlich geändert, dass sie der umfassenden Herrschaft des Gottesworts zu entgleiten drohen, so treten die legitimen Revolutionäre des Gottesworts auf und lösen das Spannungsverhältnis zwischen Gotteswort und Tatbeständen nicht etwa durch Auflehnung gegen das Gotteswort, sondern indem sie mit unvergleichlicher Energie sich der neuen Tatbestände bemächtigen, in vollendetem Bruch mit den herrschenden Tagesmeinungen auch für die neuen Tatbestände die absolute Herrschaft des Gottesworts vindizieren[8] und diese Tatbestände so lange gestalten, formen, umbilden und, wenn es nottut, auch zerbrechen, bis sie thoragemäß sind und dem ewigen Gottesfeuer neue Nahrung geben. Das Gotteswort aber, in seiner Anwendung auf die neuen Tatbestände, ewig unveränderlich, ewig unaufhebbar, bewahrt seinem legitimen Revolutionär die ewige Jugendkraft, die Gott ihm verliehen, indem es, in all seiner Unveränderlichkeit, in all seiner Unaufhebbarkeit, für die neuen Tatbestände Neues zu sagen hat. Noch ist kein Revolutionär dem Gotteswort erstanden, der nicht zugleich die Geschichte des Gottesworts bereichert hätte.

Solche Revolutionäre waren etwa die Gründer des Chassidismus.

Ein solcher Revolutionär war auch Rabbiner Hirsch זצ“ל. In seiner Rede vor drei Jahren hat der Aschaffenburger Raw[9] זצ“ל eine Parallele gezogen zwischen dem Chassidismus und Rabbiner Hirsch. Wie weit diese Parallele geht, wie richtig sie ist, das leuchtet erst ein, wenn man einsieht, dass die Gründer des Chassidismus vor einer im Grunde ähnlichen Situation standen wie Rabbiner Hirsch. Tatbestände, neue Tatbestände, waren für das Gotteswort zu gewinnen, und die Revolutionäre des Gottesworts hier wie dort haben die neuen Tatbestände dem alten Gottesworte zugeführt. –

III.

Unerhört neue Tatbestände hatte das ausgehende 18. Jahrhundert und zumal das junge 19. Jahrhundert geschaffen. Es hatte schon zuvor die Renaissance die Einzelpersönlichkeit und ihr vermeintlich grenzenloses Eigenrecht entdeckt. Aber erst die Wegbereiter der großen französischen Revolution und schließlich diese Revolution selbst trugen das politische und das kulturelle Ideal des Liberalismus in die Massen. Die Einzelpersönlichkeit durchbrach die Bindungen des Herkommens und anerkannte nur noch, gewissermaßen als Orientierung, die Folgerungen aus einer meist urgeschichtlich gedachten und gefühlten Humanität. Auf dem Gebiet der Wirtschaft entfesselte der Liberalismus die Schwingen des Kapitalismus, der dem Kampf ums Dasein eine bisher ungeahnte Schärfe verlieh und den Broterwerb zum Lebensinhalt erhob. Die Wissenschaft endlich gewann nun erst das Recht zu völlig freier Forschung und gestaltete den Menschengeist zum obersten Gesetzgeber des Weltalls. Gleichzeitig aber fielen in Westeuropa unter den Stößen des Liberalismus die Ghettomauern zusammen, und hemmungslos fluteten die neuen Tatbestände in die Judengasse.

Ein jeder dieser neuen Tatbestände, war dem Gotteswort durchaus feindlich und gefährlich. Dem Gotteswort ist die Einzelpersönlichkeit nicht Gabe, sondern Aufgabe; ist die Humanität nur Vorstufe der höheren Idee der Gottesdienerschaft der Einzelnen wie der gottgewollten Nationen; ist der Kapitalismus als Lebensbestimmung wahre Götzenverehrung; ist die Wissenschaft und der in ihr waltende Menschengeist in erster Reihe Mittel zur Menschenherrschaft über die Erde, aber keineswegs, ungeleitet, letzte Quelle der Wahrheit.

Niemand sah den Gegensatz zwischen den neuen Tatbeständen und dem Gotteswort klarer als Moses Mendelssohn. Aber dieser Moses war weder ein legitimer noch ein illegitimer Revolutionär. Er war nur ein kleiner Evolutionär, der wacker mithalf, die neuen Tatbestände an sein Volk heranzubringen, in der stillen Hoffnung, es werde sich ihnen allmählich das Gotteswort schon von selbst anpassen. Von ihm führt der Weg unmittelbar zu den illegitimen Revolutionären der Reform, die das Gotteswort zerbrachen, um es den neuen Tatbeständen gefügig zu machen.

Mit dem sicheren Instinkt treuester Liebe zum Gotteswort fühlten auch die alten Rabbiner den Gegensatz. Nicht einen Augenblick zauderten sie, auf die weltlichen Vorteile einer Emanzipation zu verzichten, die nur mit der Preisgabe des Gottesworts zu erkaufen war. Aber sie klammerten sich nicht nur mit der ganzen Kraft ihrer Liebe an das Gotteswort, sondern auch, mit der tragischen Zähigkeit der Verzweiflung, an die alten, mit unheimlicher Sicherheit dahinschwindenden Tatbestände, die sich in jahrhundertelanger Übung dem Gotteswort und seinen Anforderungen völlig angepasst hatten, steigerten damit die Spannung zwischen dem Gotteswort und den unaufhaltsam eindringenden neuen Tatbeständen bis zur Unerträglichkeit, bis die Gasse das Gotteswort und die alten Tatbestände völlig identifizierte, bis der Untergang der alten Tatbestände fast schon den Untergang des Gottesworts selber herbeiführte – da trat Rabbiner Hirsch als legitimer Revolutionär des Gottesworts auf.

IV.

Man ist gewohnt, in Rabbiner Hirsch den Vertreter und Verfechter eines theoretischen Prinzips zu erblicken. Über תורה דרך ארץ ist bis in die jüngste Vergangenheit viel geschrieben und gesprochen worden. Menschen, die sich zwar scheuten, den Sprung in die Orthodoxie zu vollziehen, weil sie Angst hatten, hierbei ums Hören und Sehen zu kommen, die aber offenbar weder ihr Hörvermögen dazu nutzten, die Stimme der Thora in ausreichendem Maße an ihr Ohr gelangen zu lassen, noch ihr Sehvermögen, um in das Schrifttum Rabbiner Hirschs genaueren Einblick zu nehmen, hatten sogar die Stirn, Rabbiner Hirsch schulmeisterlich vorzuhalten, er habe das Wort דרך ארץ, das sich in der bekannten Mischna[10] findet, einigermaßen missverstanden. Aber auch in sachkundigeren Kreisen, bis tief in die Reihen der Orthodoxie, will die Diskussion über תעד“א nicht verstummen und zeitigt immer wieder  von neuem die schwersten Missverständnisse.

In Wirklichkeit aber musste schon der Umstand, dass sich Rabbiner Hirsch selber eigentlich niemals in eine grundlegende Darlegung und Begründung des theoretischen Prinzips eingelassen, niemals auch nur in einem für die Dauer bestimmten Werk seine Grundsätze theoretisch entwickelt hat, zum Nach­ denken zwingen. Nur aus der Gesamtheit seines Schrifttums, aus dem Inbegriff seiner Menschen erziehenden und formenden Taten, aus dem Totalanblick seines vor den Augen der Welt gelebten Lebens lässt sich nachträglich feststellen, was sein Wille bezweckte.

Revolutionäre sind niemals Theoretiker. Die legitimen Revolutionäre des Gottesworts sind es erst recht nicht. Je unbeugsamer sie entschlossen sind, auch nicht ein Tüttelchen des Gottesworts preiszugeben, umso energischer können sie zur Tat übergehen. Denn nicht am Gotteswort, sondern an den Tatbeständen vollziehen sie den revolutionären Akt, und nicht die Theorie, sondern die Geschichte gibt diesem Akt die einzig mögliche Rechtfertigung.

Nicht in der Verkündung einer neuen oder einer neu ins Bewusstsein gehobenen Lehre liegt die Größe Rabbiner Hirschs. Seine Größe liegt in einer fast prophetisch anmutenden geschichtlichen Schau, die erst lange nach seinem Heimgang, die eigentlich erst in unsern Tagen ihre grandiose Bestätigung gefunden hat und noch weiter finden wird, liegt in seiner unermesslichen Gottesfurcht und Gottesliebe, seinem unermesslichen Vertrauen zu unseren Weisen, die ihm den Mut und die Kraft gaben, den furchtbaren Gefahren, die seine geschichtliche Schau gleichfalls enthielt, nicht nur standzuhalten, sondern diese geschichtliche Schau, den Gefahren zum Trotz, in den Mittelpunkt seines Denkens und Handelns zu stellen und damit zum Wegweiser des jüdischen Volkes in seiner weiteren geschichtlichen Entwicklung zu werden.–

Sahen die Alten in den heraufkommenden Tatbeständen nur ihre einstweilige Gegensätzlichkeit zum Gotteswort und hielten sich todesbereit an die berstenden Planken der alten Tatbestände geklammert, so vollbrachte Rabbiner Hirsch die historische Tat des Sprunges in Neuland, um dem alten, unveränderten Gotteswort die Herrschaft über die neuen Tatbestände zu gewinnen.

Denn nicht um Ausgleich und nicht um Versöhnung, nicht um eine Synthese und erst recht nicht um ein Nebeneinander, sondern um Herrschaft, um wahre und eigentliche Herrschaft des Gottesworts über die neuen Tatbestände ging es Rabbiner Hirsch. Das Gotteswort verträgt keine Nebenherrschaft und ganz gewiss keine Duldung. Als richtiger Revolutionär fasste er die liberalistische Einzelpersönlichkeit, das liberalistische Humanitätsideal, den liberalistisch–kapitalistischen Erwerbsberuf und nicht zuletzt den in der liberalistischen Wissenschaft sich austobenden Menschengeist an und führte sie alle als Tatbestände im engsten Sinne des Wortes zum lodernden Feuer der Thora, damit sie dort ihre Reinigung, ihre Läuterung und, wenn es nottat, ihre Vernichtung fänden. Das völlig unerträglich gewordene Spannungsverhältnis zwischen dem Gotteswort und der über Westeuropas Juden gekommenen neuen Zeit löste er als richtiger Revolutionär des Gottesworts, indem er mit den Waffen des Gottesworts in die neue Zeit hineinstieg und sie in ihre Bestandteile zerbrach und sie formte und gestaltete, bis sie dem Gotteswort als taugliche Nahrung des Gottesfeuers zu  Füßen gelegt werden konnte. Die Proklamierung der Herrschaft der Thora über die neue Zeit: das war die geschichtliche Leistung seines Lebens für seine eigenen Zeitgenossen.

Das Schrifttum Rabbiner Hirschs weist es aus, dass die Epigonen die Devise תעד“א weit häufiger im Munde führten als der Meister selbst. Was ihn betrifft, so schöpfte er aus ihr vor allem die im Grunde für die Thora als Volksleben gestaltendes Gesetz fast selbstverständliche Bestätigung, dass die Thora nicht im Lehrhaus ihr Ziel und damit ihre Schranke finden dürfe, dass vielmehr die Thora zu den jeweiligen Lebensbedingungen und Lebensverhältnissen in Beziehung und  Verbindung gebracht  werden müsse. Die Thora ist das unvergänglich Dauernde, das ewig Unabänderliche, aber derדרך ארץ  das ewig Wechselnde, das immerfort Veränderliche. Nicht die Inbeziehungsetzung der Thora mit dem דרך ארץ überhaupt ist das Revolutionäre an der Lebensleistung Rabbiner Hirschs, zu allen Zeiten stand ja die Thora in Verbindung mit dem Leben, auf das sie sich zu erstrecken hatte als Lebensgesetz. Es hat noch keine Zeit gegeben, die etwa nicht gesehen hätte, dass der ד“א der Bereich der Bewährung der Thora ist.  Es ist der ד“א, die Vorbedingung der Thora, nur weil es einen ד“א gibt, darum braucht der Mensch die Thora, dass er auf diesen ד“א die Thora erstrecke. תעד“א ist wahrhaftig keine Erfindung von Hirsch, lnbeziehungsetzung der Thora zum jeweiligen ד“א ist nicht ihm vorbehalten geblieben. Das Revolutionäre an Rabbiner Hirsch ist der unvergleichliche Mut, den er besaß, einen dahinschwindenden דרך ארץ als solchen zu durchschauen, dass er mit Riesenkräften einen neu aufkommenden דרך ארץ anpackte und zum Richterstuhl der Thora schleppte, dass er über die Allmacht einer jahrhundertealten Gewöhnung Sieger wurde, die sich die Thora nur in Zusammenhang mit einer ganz bestimmten Art von דרך ארץ vorstellen konnte, dass er in genialer Vorausschau die Thora aus der tödlichen  Verstrickung mit einem bereits überholten דרך ארץ befreite und den neuen, den lebendigen, den gegenwärtigen דרך ארץ in seiner Gegebenheit als möglichen Tatbestand der Thora bejahte, zugleich aber auf diesen neuen Tatbestand die unbedingte Alleinherrschaft der Thora mit einer Strenge erstreckte, die eigentlich jedes Missverständnis über den wahren Sinn seiner revolutionären Tat hatte ausschließen sollen.

Nicht die Beziehung zu den sogenannten [11]חיצוניות als solchen, nicht dieses Problem, das fast so alt ist wie die Geschichte des jüdischen Volkes selbst, gibt den Schlüssel zum Verständnis des historischen Wesens Rabbiner Hirschs. Die Beschäftigung mit den חיצוניות um der חיצוניות willen hat zudem Rabbiner Hirsch im Anschluss an jene bekannte Stelle des  [12]ת“כrundweg abgelehnt. So revolutionär seine Tat war, so wenig schien sie ihm einer weitläufigen halachischen Begründung bedürftig. Aus der Ewigkeit des Gotteswortes schöpfte er die unmittelbare Gewissheit, dass es keineswegs an einen bestimmten, doch auch nur im Laufe der Zeit gewordenen und darum vergänglichen דרך ארץ gebunden sei. Ihm schien im Gegenteil der Zweifel unerlaubt, ob denn auch das Gotteswort dem neuen דרך ארץ gewachsen sei. Aus dieser Selbstgewissheit entnahm er das Recht, den dahinsterbenden דרך ארץ fahren zu lassen und den neuen דרך ארץ als Objekt der Herrschaft der Thora  zu akzeptieren. Die Stimmung aber, mit der er dem neuen דרך ארץ gegenübertrat, die Art, wie er ihn zur herrschenden Thora in Verbindung brachte, bedeutete letzten Endes die Anbahnung einer neuen jüdischen Lebensform, deren tiefster Sinn nur aus der historischen Einstellung Rabbiner Hirschs zu ermitteln ist. Dieser Sinn hat sich schwerlich bereits seinen Zeitgenossen geoffenbart. Wir Heutigen sollten es wissen: der tiefste Sinn der Leistung Rabbiner Hirschs war die Rückführung des jüdischen Volks in seine Geschichte, deren Ziel kein anderes ist als die Wiederherstellung des Gottesstaates.

V.

Nur ein einziges Mal hat sich Rabbiner Hirsch gewissermaßen ex cathedra[13] über die geschichtliche Vision geäußert, zu deren Anbahner er sich für die Dauer seines Lebens gemacht hat. Diese geschichtliche Vision muss er schon in frühen Jahren gehabt haben, denn sie findet sich in den Neunzehn Briefen. Wehe unserer Jugend, wenn diese Schrift ihr nichts mehr zu sagen hätte. Wehe unserer Jugend, wenn sie vor dem Glutenhauch dieser Blätter nur naserümpfend den Stil zu bemakeln wüsste. Herr Scholem[14] freilich scheint mir hinreichend verdächtig, diese Schrift so wenig wie die meisten anderen Werke Rabbiner Hirschs wirklich zu kennen. Er hat anscheinend nur die Schillerrede gelesen und sich dort an einer für ihn sehr windigen Ecke einen mörderischen Schnupfen geholt.

Die früheren Jahrhunderte des Galuth hatten keinerlei dem Menschenauge erkennbaren Zusammenhang mit der jüdischen Nationalgeschichte, deren unverrückbares Ziel die Wiederherstellung des Gottesstaates um das Gesetzesheiligtum auf Zion als Mittelpunkt nach der Verheißung des Gottesworts bildet. Der Gottesstaat: das ist die Erstreckung der Thoraherrschaft über die ganze vielgestaltige Fülle des Menschentums überhaupt, wie es im Nationalstaat seine höchste Entwicklung findet. Im Verhältnis des tempelgekrönten herrschenden Zion zu Jeruschalaim, der Stätte des menschlichen Nebeneinander, hat der Gottesstaat seinen symbolhaften Ausdruck. Zion und Jeruschalaim: das ist die absolut herrschende Thora und der absolut beherrschte .דרך ארץ Aber der דרך ארץ der früheren Jahrhunderte des Galuth, zumal des letzten Jahrhunderts vor Rabbiner Hirsch, hatte in all seiner Dürftigkeit, in all seiner Verkümmerung der den Menschen von Gott verliehenen Mannigfaltigkeit der Kraft nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem דרך ארץ des vergangenen und des kommenden Jeruschalaim. Nur auf einem höchst kärglichen Ausschnitt menschlicher Betätigungsmöglichkeit konnte die Thora ihre Herrschaft ausüben. Niemand hat mit tieferem Verständnis, niemand mit erschütternderen Worten das Andenken unserer heimgegangenen Ahnen im Ghetto geehrt als Rabbiner Hirsch. Ihm waren es Zeiten des Triumphes der Thora, deren Macht selbst in das Leben der Parias[15] Sonne und Freude zu tragen vermochte und ihnen tiefste Frömmigkeit und immerzu wachsende Gelehrsamkeit vermittelte. Aber freilich: die jüdische Nationalgeschichte als solche schien keinen Schritt vorwärts zu gehen: ihr Inhalt schien: Leiden und Dulden und Harren und Hoffen. Es war die Epoche der vollendeten Passivität der jüdischen Nationalgeschichte.

Und nun sah Rabbiner Hirsch die Mauern der Ghetti zusammenbrechen. Nun sah Rabbiner Hirsch bei den Völkern den Geist der Menschlichkeit und Gerechtigkeit – es ist dies das bleibende Verdienst des Liberalismus der großen französischen Revolution – mehr und mehr erstarken. Nun sah Rabbiner Hirsch auf die Juden Westeuropas einen neuen דרך ארץ zukommen, der ihre Lebensmöglichkeiten zwar wesentlich komplizierte, aber auch in ungeheurem Maße bereicherte. Da tauchte in ihm die Vision des einstigen Zion, herrschend über Jeruschalaim, die Vision des kommenden Zion, herrschend über Jeruschalaim, mit hinreißender Deutlichkeit auf, die Vergangenheit ward ihm zur Lebendigkeit des ,ויהי die Zukunft zur Wirklichkeit des ,והיה und aus solcher Vergangenheit und aus solcher Zukunft formte er das Bild des neuen jüdischen Menschen, dem sich die neue Epoche der Aktivität der jüdischen Nationalgeschichte eröffnet, der aus der lebendig gewordenen nationalen Vergangenheit die Kraft zur Tat für die Zukunftswirklichkeit schöpft und in der Darbringung der Vielgestaltigkeit des neuen דרך ארץ unter die Alleinherrschaft des Gottesworts seine im Galuth endlich gewonnene, von den Propheten so schmerzlich vermisste Fähigkeit zeigt, als Bürger des kommenden Gottesstaats Jeruschalaim zu Füßen Zions zu legen.–

Die Geschichte des jüdischen Volks im Galuth ist die Geschichte des Gottesworts im Galuth, ist die Geschichte des kommenden Gottesstaats, der im Zeichen des והיה in jede Gegenwart als Wirklichkeit rejiziert[16] ist. Versteht man unter einem Nationaljuden einen Juden, der bewusst sich als Bürger des kommenden Gottesstaats fühlt und: für diesen kommenden Gottesstaat bewusst die Arbeit seines Lebens einsetzt, so ist Rabbiner Hirsch der erste moderne Nationaljude. Lang ehe Theodor Herzl die falsche Vision des Judenstaats hatte, kündete Rabbiner Hirsch die ewig wahre Vision des Gottesstaats. Nur und nur im Hinblick auf diesen kommenden Gottesstaat mit seinem herrschenden Zion und seinem beherrschten Jeruschalaim schritt er freudig zu der ungeheuren Geistesarbeit der Überwindung des neuen דרך ארץ durch das  ewig unwandelbare Gotteswort, denn dieser neueד“א , war ihm in Wahrheit der דרך ארץ des kommenden ארץ ישראל. Dem kommenden ארץ ישראל zunächst das jüdische Volk selbst aufbauen, ihm die Thoragrößen zu gewinnen, die die Vielgestaltigkeit des Lebens kennen, um sie nach der Form der Thora zu formen, ihm die Kaufleute, die Mediziner, die Naturforscher, kurzum die geistigen Kräfte in höchster Thoratreue zu erziehen, deren es einst bedürfen wird: das war der tiefste geschichtliche Sinn der Lebensleistung Rabbiner Hirschs für die Zukunft.

Ganz im Banne des kommenden Gottesstaats steht sein größtes Werk: der Pentateuchkommentar. Wie er da zunächst die Stellung des Gottesworts inmitten der Schöpfung umreißt und im Gotteswort der Thora das למינו–Gesetz[17] des Menschentums schlechthin erkennt; wie er die herrliche Konzeption des Schabbats entwirft in seiner universalmenschheitlichen Heiligkeit; wie er dann ganz in die universalmenschheitliche Geschichte eingeht und in Adams Katastrophe die freie Wahl des einen der beiden möglichen geschichtlichen Wege begreift; wie er den ersten Anfängen der menschheitlichen Zivilisation nachspürt und nach der Flut der Entseelung in Noahs Söhnen, das Seherwort des Vaters mit divinatorischer[18] Genialität erfassend, die drei kulturellen Entfaltungen vorbereitet findet, die die Menschheitsgeschichte zeitigt; wie ihm der Turmbau von Babel die Errichtung angemaßter Staatensouveränität bedeutet, mit der das Gotteswort die Universalgeschichte ruckweise verlässt, um mit der Berufung unseres Stammvaters den Staaten angemaßter Souveränität den Thorastaat der Gottessouveränität entgegenzustellen; wie er dann mit höchster Einfühlungskraft die Wesenszüge unserer Stammväter schildert und uns alsdann die klarste Einsicht übermittelt, wie Gott die ewige Nation gründet und konstituiert; wie er die charakteristischen Züge des ewigen Zivilrechts des  Gottesstaats zeichnet, um alsdann mit einer Ergriffenheit ohnegleichen gerade diejenigen Institutionen des Gottesstaats in aktualisierender Eindringlichkeit zur Darstellung zu bringen, von denen freilich das zionistische und das liberale Assimilantentum nichts wissen möchte: also das Heiligtum und seine Geräte, den Opferdienst, die Lehre von Reinheit und Unreinheit und die Lehre vom Aussatz; wie er das Individualrecht und namentlich das Sozialrecht des Gottesstaats lehrt , letzteres fast wie ein Programm für den unmittelbar bevorstehenden Volksaufbau in Erez Israel; und wie er schließlich, nach Darstellung der Wüstenwanderung und ihrer mannigfachen Episoden, die Reden unseres scheidenden Lehrers Moses begleitet, um am Ende mit ihm in den jubelnden Hymnus von der Ewigkeit der jüdischen Nation und von der Ewigkeit des Gottesworts inmitten der jüdischen Nation einzustimmen: wer dieses unvergängliche Werk gelesen, gelernt und immer wieder gelernt hat, dem ersteht Rabbiner Hirsch in  der Tat als der große Wegweiser der jüdischen Nation in ihre nationale Geschichte, als der große Künder des Gottesstaats der Zukunft als Ziel dieser nationalen Geschichte, als der große Mahner der jüdischen Nation zur Rückkehr in ihre aktive Nationalgeschichte, zum Aufbau des jüdischen Volks, um es bereitzustellen für seine Wiedervereinigung mit dem jüdischen Land im Gottesstaat.–

Zwischen [19]אחור und קדם45, zwischen ויהי und והיה stand Rabbiner Hirsch. Aber Gott hatte die aufnehmende, die aufbewahrende und fortgestaltende Hand der Geschichtslenkung auf ihn gelegt.

VI.

Zurück in die jüdische Nationalgeschichte der Gottesstaatsentwicklung; Überwindung der Vielgestaltigkeit des modernen דרך ארץ im Sinne der Bereitstellung des jüdischen Volks für das kommende, Zion huldigende Jeruschalaim; zurück in die jüdische Nationalgeschichte auch im Sinne vom Gotteswort geforderter Verherrlichung des Gottesnamens inmitten der Völker der Erde: hat die Entwicklung der Dinge nach dem Heimgang Rabbiner Hirschs seine metageschichtliche Einstellung überholt oder ihr vielmehr brennendste Aktualität wie nie zuvor verliehen?

Wie ist doch heute die jüdische Welt, bis tief in die Reihen der Orthodoxie, noch mit grausamer Blindheit geschlagen.

Toren, die da glauben, es habe der große Revolutionär, der das Gotteswort aus der Erstickung bringenden Umklammerung eines hinsterbenden דרך ארץ befreite, diese heroische Tat nur vollbracht, um das Gotteswort sofort wieder mit einem anderen דרך ארץ etwa einem deutschen דרך ארץ seiner eigenen Manneszeit, auf Gedeih und Verderb und auf Ewigkeit zu verknüpfen. Toren, die da glauben, es habe Rabbiner Hirsch den deutschen דרך ארץ seiner eigenen Manneszeit um dieses דרך ארץ selbst willen erkoren und ihn gewissermaßen als zweite Absolutheit neben die Absolutheit des Gottesworts hingestellt. Wer also denkt und also das Volk belehrt, der hat sich allerdings an einer äußerst zugigen Ecke mit Rabbiner Hirsch getroffen, und aus ihm spricht wahrlich nicht Rabbiner Hirsch, sondern sein eigener unheilbarer Schnupfen. Wenn der deutsche דרך ארץ für die deutschen Juden eine Einschränkung erfährt, so wird eben das Gotteswort seine Herrschaft auf diesen eingeschränkten דרך ארץ zu erstrecken haben, und nach den  Erfahrungen der letzten Jahrzehnte steht es rein praktisch noch lange nicht fest, ob diese Einschränkung dem Gotteswort Abbruch tun muss. Die Großtat Rabbiner Hirschs seinen Zeitgenossen gegenüber war doch gerade die Loslösung des Gottesworts von einem דרך ארץ jahrhundertelanger Gewöhnung und die Verkündung der Forderung, dass das ewig unveränderliche Gotteswort jedem דרך ארץ gewachsen sein müsse, den die Vorsehung in geschichtlicher Entwicklung zur Entstehung bringt und über die Glieder des jüdischen Volks verhängt. Nur wer von der geschichtlichen Leistung Rabbiner Hirschs nicht die geringste Ahnung hat, kann die jüngsten Ereignisse in Deutschland als einen Zusammenbruch seiner Weltanschauung erachten.

Wesentlich ist allein dies: Hat Rabbiner Hirsch richtig gesehen, da er unter Fahrenlassen des דרך ארץ der vergangenen Jahrhunderte Westeuropas den neuen דרך ארץ Westeuropas mit dem Gotteswort konfrontierte? Hat er richtig gesehen, da er eine neue Epoche der jüdischen Galuthgeschichte eröffnete, da er uns zur Rückkehr in die aktive Nationalgeschichte des  Gottesworts und des Gottesstaats aufrief und da er an das ungeheure Werk schritt, dem kommenden Gottesstaat den jüdischen Volkskörper aufbauend bereitzustellen?

Nur mit tiefster Erschütterung können wir es heute feststellen: die von Rabbiner Hirsch prophetisch vorausgeschaute unmittelbare Entwicklung zum Gottesstaat, die von Rabbiner Hirsch prophetisch vorausgeschaute probeweise Gegenüberstellung des kommenden Zion und des kommenden Jeruschalaim, verbunden mit dem von Rabbiner Hirsch prophetisch vorausgeschauten unaufhaltsamen Hinausgedrängtwerden des jüdischen Volks auf die geschichtliche Bühne wo es gilt, in metageschichtlicher Bewahrung den Namen Gottes öffentlich zu verherrlichen: wir Heutigen erleben es unter tausend Schmerzen als fürchterlich ernste Wirklichkeit! Schneller, als Rabbiner Hirsch selber es wohl geahnt hat, ist die Zeit gekommen, da sich der von Rabbiner Hirsch mit Riesenkraft im Namen des Gottesworts angefasste moderne דרך ארץ als דרך ארץ von  ארץ ישראל offenbart. Noch waren erst, vor allem in Deutschland – und das bleibt unser dauernder Stolz! – die ersten Anfänge zum Aufbau des jüdischen Volks für das kommende zionbeherrschte Jeruschalaim geschehen: und schon wogt in unseren Tagen in ארץ ישראל selbst der Kampf des Gottesworts von Zion mit den in rasender Schnelle wachsenden Lebenstatbeständen von Jeruschalaim. Es hatten sich kaum erst die Augen unseres großen Lehrers geschlossen, da folgte auf seinen Weckruf zum Gottesstaat der Weckruf zum Judenstaat, und erst dieser Weckruf zum Judenstaat in seiner diametralen Gegensätzlichkeit zum Weckruf zum Gottesstaat hat uns Nachfahren das eigentliche Wesen der Leistung Rabbiner Hirschs enthüllt. Auf den Weckruf zur Metageschichte kam der Weckruf zur Pseudogeschichte, auf den legitimen Revolutionär kam der illegitime Revolutionär, und der ganze Sinn des furchtbaren ernsten Erlebens unserer Tage liegt in dem einen Satz beschlossen: Hirsch oder Herzl! Ein Drittes gibt es nicht! Aufstieg zur Metageschichte oder Abstieg zur  Völkergeschichte! Ein Drittes gibt es nicht. Endgültig ist unsere nationale Galuthgeschichte aus einem Epos zu einem Drama geworden. Sie schreitet fort, sie  schreitet unaufhaltsam fort. Setzt sich in ihr Rabbiner Hirsch durch, so winkt uns der Gottesstaat des über Jeruschalaim herrschenden Zion als Siegespalme. Setzt sich in ihr Rabbiner Hirsch nicht durch, so kann der Gottesstaat nur noch als Gnade kommen. Ein Drittes gibt es nicht. –

Es hat uns die Vorsehung nicht gegönnt, in geruhsamer Entwicklung das jüdische Volk im Galuth für den kommenden Gottesstaat aufzubauen, wie wohl Rabbiner Hirsch selbst gehofft hat. Von keinerlei Einblick in die metageschichtliche Wesensart des jüdischen Volks beschwert, ganz seinem rein politischen Ethos hingegeben, entfaltete Herzl die Fahne des von Zions Gesetzesheiligtum völlig losgelösten Jeruschalaim, und lang ehe noch ein vom Gotteswort allseitig durchdrungener und beherrschter jüdisch–nationaler דרך ארץ zur Verfügung stand, lang ehe noch unser Volk bereit war, Zions Jeruschalaim zu sein, erscholl sein schriller Ruf zur Rückkehr nach Jeruschalaim. Wenn die Vorsehung diesem Ruf geschichtliche Folgen gegeben, wenn sie das Nationalheim wenigstens im Sinne eines probeweisen Anfangs zur Entstehung gebracht hat, so hat sie damit das jüdische Volk vor eine Aufgabe von solch unermesslicher Schwere gestellt, dass wir an ihrer Lösung verzweifeln müssten, hätte die Vorsehung uns nicht vor Herzl – Rabbiner Hirsch geschenkt! Nur Rabbiner Hirsch kann Herzl überwinden.

Unsere zionistischen Gegner fühlen dies mit jenem sicheren Instinkt, wie ihn eben nur ein Gegner besitzt. Das Gotteswort, eingebannt ins Beth Hamidrasch, in seiner Herrschaft eingeschränkt auf den kümmerlich דרך ארץ vergangener Jahrhunderte, der oft nur deshalb noch ist, weil er nicht einmal die Kraft zum Sterben hat, ist ihnen nicht gefährlich. Aber das Gotteswort vom Beth Hamidrasch, die Herrscherhand erstreckend auf ein die Menschenkräfte harmonisch entfaltendes Volksleben, das Gotteswort von Zion, machtvoll einströmend in die lebendigen Gassen Jeruschalaims: Rabbiner Hirschs historische Schau trifft das Herz ihres Herzens. Sie fühlen nur die Gefahr, denn ein wirkliches Verständnis für die hervorragende Gestalt Rabbiner Hirschs besitzen sie nicht, können sie nicht besitzen, weil sie in ihrer geistigen Struktur heillos – assimiliert sind. Töricht ist der Glaube, dass es genüge, hebräisch zu sprechen und zu schreiben, um vor Assimilation geschützt zu sein, und nur allzu oft schauen aus dem Löwenfell des  עבריתdie wohlbekannten Eselsohren europäischen Denkens und Fühlens hervor. Vergleicht man etwa die hebräische Universität in Jeruschalaim mit der ganz im Geist Rabbiner Hirschs von seinem großen Nachfolger[20] זצ“ל errichteten Jeschiwa in Frankfurt, so ist ein Zweifel darüber unmöglich, dass man sich tausendmal eher den Schnupfen der Assimilation an der Hebräischen Universität in Jeruschalaim holen kann als an der Jeschiwa in Frankfurt. Die eigentliche Gefahr für den Zionismus bildet ein Judentum, das an Rabbiner Hirsch zu selbstbewusstem Können und Kämpfen erstarkt. Möchten doch endlich Deutschlands thoratreue Juden aufhören, immer wieder in den Fehler zu verfallen, sich selbst und ihre Thoragrößen, die ihnen Gott geschenkt, durch die Brille ihrer Gegner zu sehen. Es ist die alte Frage von Sein und Nichtsein, ob das thoratreue jüdische Volk, das heute im Verzweiflungskampf steht für Zion und Jeruschalaim, den Weg zu Rabbiner Hirsch findet oder nicht. Wir, die ersten Schüler Rabbiner Hirschs, wir sind vor allem verpflichtet, seinen Weg zu gehen, den zu beschreiten uns und alle Teile des jüdischen Volkes die Vorsehung Gottes zwingt.

Gottesstaat oder Judenstaat: dieses erschütternde Entweder ­ Oder, das uns alle, ob wir wollen oder nicht, in die Geschichte reißt, das, geschichtlich gesehen, Herzl im Sinne der Antinomie[21]als den größten Helfershelfer Rabbiner Hirschs erweist, verleiht Rabbiner Hirsch als Wegweiser unseres neuen geschichtlichen Ganges die unerhörteste Aktualität. Geist seines Geistes hat durch die Tätigkeit der Agudas Jisroel[22] die polnische Massenorthodoxie gerettet, wie mir dies erst vor einigen Tagen einer ihrer ersten Führer bestätigt hat. Geist seines Geistes wird Jeruschalaim für Zion erbauen!

Vor einer großen Aufgabe steht die Rabbiner–Hirsch–Gesellschaft. Ihr Vorsitzender hat sie als die dringendste der Stunde bezeichnet: die Übertragung des Schrifttums Rabbiner Hirschs ins Hebräische, damit Rabbiner Hirsch unmittelbar zum jüdischen Volk, vor allem zum Volk des kommenden Jeruschalaim sprechen kann. Diese Übertragung wird dem ganzen jüdischen Volk Rabbiner Hirsch als den nur jüdischen Vermittler zwischen dem jüdisch–geschichtlichen ויהי und dem jüdisch–geschichtlichen והיה erweisen, und wie einst Rabbiner Hirsch durch sein Schrifttum die deutsche Sprache geadelt hat, so wird die Übertragung seines Schrifttums dem modernen עברית allererst die Weihe des Heiligtums schenken. Und wie einst das Schrifttum Rabbiner Hirschs im deutschen Gewande das jüdische Westeuropa gerettet und bis tief in den  Osten hinein einen heute in seiner Tragweite noch gar nicht abzuschätzenden Einfluss ausgeübt hat und noch ausübt, so mag sein Schrifttum im hebräischen Gewand seinen Siegeslauf vor allem in ארץ ישראל antreten und mit dazu beitragen, hier den kommenden Gottesstaat ארץ ישראל als – ארץ צבי zu gestalten.

[1] Psalm 139:5

[2] Handfläche, aber auch Schale

[3] Hand, aber auch Mahnmal

[4] und es wird sein

[5] und es ward

[6] Jerobeam war der erste König des Nordreiches nach der Teilung des Landes nach dem Tod von König Salomon

[7] Rabbiner Geiger und Rabbiner Philippson waren zwei zeitgenössische liberale Rabbiner Hirschs

[8] als Eigentum beanspruchen, Anspruch erheben

[9] Rabbiner Raphael Breuer, Vater von Isaac Breuer

[10] Siehe Einleitung

[11] Außen Stehenden

[12] Thorat Kohanim

[13] von höherer, maßgeblicher Stelle (willkürlich, autoritär) bestimmt und keinen Widerspruch zulassend

[14] ?

[15] Unterste Kaste in Indien

[16] verwerfen, abweisen (einen Antrag, eine Klage o. Ä.)

[17] nach seiner Art

[18] vorahnend, seherisch

[19] siehe einleitenden Vers

[20] Rabbiner Salomon Breuer, Schwiegersohn Rabbiner Hirschs

[21] Paradoxon, ein Widerspruch in sich

[22] Politische Partei in Israel: Der Vorstellung der Agudat Israel nach kann eine nationale Erlösung des jüdischen Volkes nicht durch die politische Bewegung des Zionismus, sondern ausschließlich durch die Befolgung aller in der Tora verankerten religiösen Gebote (Mitzwot) erreicht werden.

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