Von Alberto Gerchunoff

In der Zeitschrift „Der Israelit“ Nummer 8, vom 24.02.1938 habe ich den nachfolgenden Artikel passend zum Schawuothfest gefunden. Die Ausreise für Juden nach Argentinien war zum damaligen Zeitpunkt wohl noch möglich.

Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter  https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2541571

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg.

Der bekannte argentinisch-jüdische Schriftsteller Alberto Gerchunoff[1] hat in seinem Buch „Los Gauchos Judios“ mit feiner Einfühlungsgabe Szenen aus dem Leben der jüdischen Kolonisten in Argentinien wiedergegeben. Nachstehend bringen wir in der Übersetzung von Jeanne Bachmann eine dieser Episoden:

I.

Erinnerung an die Heimat.

In der jämmerlichen, ewig schneebedeckten Stadt Tultschin[2], dieser Stadt der ruhmreichen Rabbanim und der uralten Synagogen, erfüllten die Berichte aus Amerika die Seelen der Juden mit Träumereien. Wenn einer der Wander-Rabbiner im Tempel predigte, wenn in den Telegrammen irgendeiner Zeitung von Odessa die Rede war von fernen Ländern der Neuen Welt, fanden sich die Juden im Hause eines angesehenen Gemeindemitglieds zusammen, um das Projekt der Auswanderung mit talmudistischer Gründlichkeit zu erörtern.

Jakob erinnerte sich dieser Zusammenkünfte wohl: Es war in jenen Zeiten, da der Ausnahmegesetze im Heiligen Russischen Reich immer mehr wurden. Die Picken[3] der Kosaken zerstörten die ehrwürdigen Synagogen und die alten Heiligtümer. Aus Deutschland hatte man sie mitgebracht, diese geweihten Heiligtümer, an deren edlen Formen die Geschichte haftete. Das salomonische Doppeldreieck[4] glänzte an ihrer Spitze, als sie auf Gemeindekarren durch die Straßen geführt wurden. Das alles konnte Jakob nicht vergessen. Er gedachte der Worte der Rabbanim, des Wehklagens der Frauen, als die Kosaken die heiligen Bücher in der Hauptsynagoge verbrannten, die die Vorväter der Stadt geschenkt hatten. Alles Volk trug Trauer. Es war am Vorabend von Schawuoth. Selbst die jungen Bäume, mit denen das Fest des Frühlings begangen wird, waren schwarzumflort, in Schwarz gingen die Frauen und Kinder und die Alten fasteten. — Damals war es, dass der Dajan, Rabbi Jehuda Anakroi[5], nach Paris reiste, um mit den Leuten des Baron Hirsch[6] über die Organisation jüdischer Kolonien in Argentinien zu verhandeln. Und als er wiederkam, scharten sich die Juden um den greisen Gelehrten, der ihnen die frohe Botschaft brachte:

„Der Herr Baron Hirsch — G ‚ tt mög‘ ihn segnen — hat versprochen, uns zu helfen, und mein Begleiter, Rabbi Zadock Kahn[7] wird ihm bei der Durchführung des Plans zur Seite stehen.“

Und der Dajan nahm all seine in geistlichen Disputen geschulte Beredsamkeit zusammen, um eine wunderbare Zukunft des verfolgten Volkes auszumalen. Vor Rührung zitterte seine Stimme, als redete er im Taumel vom Gelobten Land. Mit den vom vielen Umblättern knotig und trocken gewordenen Händen strich er sich den langen weißen Bart; seine kleinen lebendigen Augen aber glühten in prophetischem Feuer.

„Ihr werdet sehen, ja, ihr werdet sehen! Das ist ein Land, wo alle arbeiten, wo uns der Christ nicht hasst, weil dort der Himmel anders ist, und Ehrfurcht herrscht in seiner Seele und Gerechtigkeit!“

Die Worte des Rabbi Jehuda Anakroi gossen Frieden in die Seelen der Traurigen. Durch die hohen Fenster drang der Schein der Nacht und gab den elenden und hageren Gestalten ein gespenstisches Aussehen. Die Juden standen in Verzückung und stammelten:

„Amen!“

Sabbat Nachmittag trafen sich die angesehensten Juden von Tultschin im Hause Jakobs. Man sprach über religiöse Angelegenheiten, wobei der Dajan schwierige Fragen mit Argumenten auslegte, die er in denkwürdigen Disputen gesammelt hatte. Die talmudistische Gelehrsamkeit ebenso wie die populäre Schulweisheit, die Gesetze und die geheimsten Geheimnisse der Kabbala, sie waren ihm vertraut.

Einmal erging sich der Rabbi von Tolno[8] in Lobeshymnen auf Spanien, er schwärmte von dem freundlichen Klima und gedachte seufzend der Zeiten, da das Volk Israel auf spanischem Boden lebte.

„Spanien“, sagte er, „es könnte für uns das herrlichste, Land sein, ruhte darauf nicht, der Cherem[9] der Synagoge.“

Der Dajan machte eine unwillige Geste. In Spanien war es, wo die Juden aufgehört haben, das Land zu bestellen und das Vieh zu hüten. Vergesst nicht, geliebter Rabbi, was gesagt ist in Seraim, im ersten Buche des Talmud über das Leben des Landmanns: „Es ist das einzig heilsame und wert der Gnade G’ttes.“ Deshalb, als Rabbi Zadock Kahn die Auswanderung nach Argentinien ankündigte, vergaß ich in meiner Freude sogar der Rückkehr nach Jerusalem, und ich dachte, vorerst gilt das Wort: „Zion ist dort, wo Freude herrscht und Frieden.“ — Alle werden wir nach Argentinien gehen, wieder das Land bebauen und unser Vieh hüten, das der Höchste segnen möge. Wenn wir zu diesem Leben zurückkehren, kehren wir heim zu unserer früheren Existenz, und so G’tt will, werde auch ich in meinem Alter diese Erde grüßen und unter ihrem Himmel die Kinder meiner Kinder segnen können!“

Also sprach Rabbi Jehuda Anakroi, der letzte Vertreter jener großen Rabbanim, deren Weisheit über den Gemeinden von Spanien und Portugal leuchtete. Und indem ich diese seine Worte hier wiederhole, grüße ich in seinem Namen die Erde, die mir Freude gibt und Frieden, und wie die Juden, die ihn reden hörten, sage auch ich:

„Amen!“

II.

Erster Drusch[10].

Es war noch früh am Morgen, als die Taglöhner die letzten Säcke unseres Weizens wegschafften. Die Dreschmaschine stand still und im Schatten der Tenne tranken die Leute Kaffee; eine kräftige Sonne dörrte uns aus und streute ihre sengenden Strahlen über das gemähte Feld, das aussah wie eine goldene Bürste.

Weiter weg, auf dem Weideplatz, in den trockenen Wasserläufen, rund um die kleinen Tümpel, grasten die Rinder mit langsamen, müden Bewegungen inmitten des Gekreisches der Teros (Sporenkiebitze).

Der Bürgermeister der Kolonie, ein beredter und schlauer Alter, den die Nachbarn in einer Synagogenversammlung gewählt hatten, kommentierte die Ergebnisse der Ernte und lobte die Güte unseres Weizens.

Er konnte kaum lesen und schreiben und aus der Schrift wusste er nur einige Stellen auswendig, die er oft und gern zitierte, wenn er bei Lieferung einer Pflugschar oder beim Kauf einer Rolle Draht intervenieren musste.

An jenem heißen Morgen hielt er im Schatten der Tenne den Nachbarn eine Rede, in der er die Vorzüge des Landlebens pries.

„Ich weiß sehr wohl,“ sagte er, „dass wir nicht in Jerusalem sind, ich weiß sehr wohl, dass diese Erde nicht die unserer Vorfahren ist. Aber wir säen und ernten Weizen und wenn wir des Abends hinterm Pflug vom Felde heimkehren, können wir den Höchsten lobpreisen, weil er uns weggeführt hat von dort, wo wir gehasst waren und in Elend und Verfolgung lebten.“

„Aber der Weizen Bessarabiens ist weißer, als der der Kolonie,“ warf der Schächter ein und gab bedächtig seiner Unzufriedenheit Ausdruck:

„In Russland,“ sagte er, „lebt man schlecht, aber in der Furcht G’ttes und im Einklang mit seinen Gesetzen. Hier aber werden die Jungen zu Dörflern!“

Der schrille Pfiff der Maschine trieb die Nachbarn auseinander. Nun war Moses Hinlein mit dem Drusch an der Reihe; schweigsam stellte er sich neben dem fahrbaren Häuschen des Maschinisten auf. Er war klein und schmal und in dem kurzsichtigen Blick seiner runden winzigen Äugelein glomm verhaltene Fröhlichkeit. Neben ihm stand sein im Elend des heimatlichen Dorfes alt gewordenes Weib und überdachte das Tagewerk, während Deborah, die robuste, geschmeidige Tochter, das Mittagessen bereitete.

Die Arbeit begann. Wir stiegen auf Moses‘ Tenne, um die Garben herunterzureichen, indes die Tagelöhner die wunderbare Maschine ölten.

„Moses“, rief der Bürgermeister, „hast du in Wilna auch gedroschen? Als Uhrmacher hast du dort gearbeitet, alte Uhren gerichtet und ein paar Rubel im Monat verdient. Hier aber, Moses, hier hast du Weizen, Land und Vieh!“

Er erhob ein Glas Zuckerrohrschnaps und trank ihm zu:

„Moses, wie sagten wir in Russland: Ich wünsch dir, dass dein Land stets fruchtbar sei und du die Frucht vor Überfluss nicht einbringen kannst!“

Moses blieb schweigsam neben der Maschine stehen. In seinem Kopf gingen verschwommene Erinnerungen um an sein trauriges Leben in Wilna, an sein gequältes, bitteres Judenleben…

Das große Rad drehte sich und das Korn fing an sich zu ergießen wie ein Goldregen des gebenedeiten in Licht getauchten Himmels. Feierlich hielt er die Hand unter den lichten Weizenstrom und ließ sie da lange Zeit. Sein Weib neben ihm sah voll Andacht zu und auch Deborah schaute.

„Seht, Kinder! dieser Weizen ist unser…“

Und über seine von langen Entbehrungen zerfurchten Wangen rannen zwei Tränen; sie fielen zusammen mit dem dicken Körnerstrahl in den ersten Sack seiner Ernte…


[1] Wikipedia: Alberto Gerchunoff (* 1. Januar 1883 in Proskurow (Russisches Kaiserreich); † 2. März 1950 in Buenos Aires) war ein argentinischer Journalist und Schriftsteller russischer Herkunft. Gerchunoff stammte aus einer jüdischen Familie, die 1889 auf Grund von Pogromen nach Argentinien auswanderte.

[2] Wikipedia: Tultschyn (ukrainisch Тульчин; russisch Тульчин Tultschin, polnisch Tulczyn, rumänisch Tulcin) ist eine 15.300 Einwohner (2017) zählende Stadt in der Oblast Winnyzja der West-Ukraine.

[3] Reiterlanze

[4] Der Davidstern

[5] ??????

[6] Wikipedia: Baron Maurice de Hirsch (geboren am 9. Dezember 1831 in München; gestorben am 21. April 1896 in der Nähe von Ersek-Ujvar (Ungarn); gebürtig Moritz Freiherr von Hirsch auf Gereuth) war ein deutscher Unternehmer und Philanthrop.
Unter dem Einfluss seiner Frau Clara und durch persönliche Erlebnisse während seiner Geschäftsreisen auf dem Balkan und in der Türkei wurde Hirsch auf die Lebensumstände jüdischer Gemeinden in Südosteuropa und Kleinasien aufmerksam. Die Alliance Israélite Universelle (AIU) schien ihm ein geeigneter Partner für eigene humanitäre Aktivitäten. Er stiftete der Organisation 1873 eine Summe von einer Million Francs für den Bau von Schulen, und ab 1880 übernahm er das jährliche Budgetdefizit der Organisation, die sich unter anderem in Konstantinopel um Tausende vor Pogromen geflüchtete bulgarische Juden kümmerte (siehe Balkankrise). Im russisch-türkischen Krieg von 1878 war Hirsch auf beiden Seiten humanitär tätig, weil die Juden „zwischen den Fronten saßen“ und einerseits die jungen slawischen Nationalbewegungen unterstützten, andererseits von nationalistischen Fanatikern als „fünfte Kolonne des Islam“ verdächtigt wurden. Von 1878 an finanzierte Hirsch ein Netz von Handelsschulen auf dem Balkan, die von der AIU aufgebaut wurden. Ab 1885 versuchte er auch in Russland humanitär tätig zu werden, wo das Los der jüdischen Bevölkerung noch bedrückender als auf dem Balkan war.

[7] Wikipedia: Zadoc Kahn (Zadok Khan, Zadok Kahn; geboren 18. Februar 1839 in Mommenheim, Elsass; gestorben 8. Dezember 1905 in Paris) war 1868 der Nachfolger von Lazare Isidor als Großrabbiner (grand-rabbin) von Paris und wurde 1889 Großrabbiner von Frankreich des Consistoire central israélite, ein Amt, das er bis zu seinem Tod innehatte. Er stand in Kontakt mit den humanitären Werken von Baron Hirsch und Baron Edmond de Rothschild und gehörte zu den wichtigsten Streitern gegen den Antisemitismus.

[8] Stadt in der Ukraine

[9] Religiöser Bann (seit der Vertreibung der Juden im Jahre 1492 war die Wiederansiedlung für Juden in Spanien seitens der Rabbiner verboten)

[10] Drusch=das Dreschen oder auch Ertrag des Dreschens

  • Beitrags-Kategorie:Artikel