Dieser Artikel von Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l wurde in der Zeitschrift „Jeschurun“ zusammen mit dem Kalenderblatt auf Seite 3 veröffentlicht. Er steht aber in einem ganz anderen Zusammenhang, denn er bereitet uns bereits auf den „Geburtstag“ des jüdischen Volkes, auf das Pessachfest, vor. Es gibt 4 ausgewählte Schabbattage, die uns auf das große Ereignis, den Auszug aus Ägypten im Vorhinein erinnern sollen. Es ist dies Schabbat Schekalim, Schabbat Para, Schabbat Hachodesch und Schabbat Hagadol. Der erste dieser ausgewählten Schabbattage fällt dieses Jahr auf den 27. Schwat (18. Februar). An diesem Schabbat werden 2 Thorarollen herausgenommen. Aus der ersten, liest man den Wochenabschnitt Mischpatim (Exodus 21:1 – 24:18) vor, aus der zweiten zusätzlich den Abschnitt über die Abgabe eines vollen „Halben Scheckels“ (Exodus 30:11 – 30:16), wie sich Rabbiner Hirsch diesbezüglich auszudrücken pflegte.
Das Original finden Sie in dem Archiv der Universität Frankfurt am Main unter:  https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2932813
Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg.

Sobald der kommende Lenz sich durch seine Frühlingsboten, wie leise auch immer, angekündigt hat, bereiten uns die Anordnungen unserer großen Weisen auf das Fest unseres geschichtlichen Frühlings vor, das mit dem Lenzmonat eintreten wird. Das Fest unserer Nationalgeburt, das Fest, das den Erlöser in der Natur zugleich als den Menschheitserlöser in der Weltgeschichte offenbart, das große Pessachfest zieht heran, und soll uns mit all den Gefühlen, Gesinnungen und Gedanken vorbereitet finden, die diesem Geburtsfest Israels geziemen. Vier Paraschioth bereiten auf das Passahfest vor: Paraschath Schekalim, Sachor, Parah und Chodesch.

Am Sabbath vor Adarneumond oder wenn der erste Adarneumondstag am Sabbath ist, an diesem, wird Paraschath Schekalim gelesen.

Paraschath Schekalim soll das jüdische Gesamtgefühl in uns wachrufen. Paraschath Schekalim mahnt uns: Alle gehören wir einer großen heiligen Gottesstiftung an, alle haben wir an einem großen, heiligen Gotteswerk zu arbeiten; jeder hat nach seinen Kräften für dieses Gesamtwerk zu leisten. Der Einzelne, der nur für sich und nichts fürs Gesamtheiligtum sein will, verliert eben damit auch die Berechtigung seines Einzeldaseins, und nur in dem vollen aufrichtigen Anschluss an dieses heilige Gesamtzusammenwirken gewinnt auch erst das Dasein und Wirken des Einzelnen seine Bedeutung. Denn wenig selbst für den Augenblick vermag der Einzelne; nichts aber für die Dauer; alles aber und für die Ewigkeit die Gesamtheit. Nicht daher nach dem, was einer ist und einer hat, ist er zu schätzen: sondern nach dem, was einer für dies Gesamtheiligtum leistet und schafft. Und nicht der alleinige Umfang des Geleisteten ist der Maßstab für die persönliche Wertschätzung des Einzelnen, sondern, das Verhältnis der Leistung zu der Kraft und dem Vermögen des Leistenden. Hat der Reiche und der Begabte viel, der Arme und der Schwache aber wenig geleistet, das Wenige des Armen und Schwachen ist aber das Aufgebot der ganzen ihm verliehenen Kraft und Begabung, das Viele des Reichen und Begabten ist aber nur ein kleiner Teil dessen, was er nach seiner Kraft und seiner Begabung hätte leisten können: siehe, so wiegt vollwichtig auf der Gotteswage des Heiligtums das Wenige des Schwachen und Armen, zu leicht aber wird das Viele des Begabten und Reichen befunden.

Lesen wir die Parascha:

Wenn du die Häupter der Söhne Israels für ihre Zählung aufnehmen willst“ — wenn du wissen willst, wie viele Söhne Israels Er als die Seinen zählen kann, wie viele in Israel gezählt, genauer: „gedacht“ werden dürfen —

„so gebe jeder Gott eine Sühne seiner Person, indem man sie zählt; dann wird sie keine Vernichtung treffen, indem man sie zählt!“

Geben, spenden, wirken, leisten; — Gott leisten, für Gott wirken, Gott spenden und geben muss jeder, wer unter Israels Gezählten mitgezählt werden will; nur die Spende, die Leistung, die für Gott schaffende und wirkende Tat wird gezählt, nur in ihr findet jede Persönlichkeit in Israel ihre Bedeutung, ihre Berechtigung. Wehe dir, wenn Selbstsucht und Engherzigkeit und Hochmut dich lehren, nur dir, nur für dich zu leben! Je mehr du für dich lebst, je weniger lebst du. Je mehr du mit deinem selbstsüchtigen Streben dein Dasein, deinen Wert und deine Bedeutung zu begründen und zu sichern vermeinst, je mehr untergräbst du dein Dasein, je mehr tilgst du deinen Wert und löschst deine Bedeutung. Wer im Gottesreich nicht für Gott lebt und schafft und wirkt und leistet, ist Null im Gottesreich, und Vernichtung trifft den, der sich leistungslos dennoch zählt!

„Diess gebe jeder, der mit hinüber treten will zu den Gezählten! Die Hälfte eines Schekels nach dem Gewichte des Heiligtums, zwanzig Gera der Schekel, die Hälfte eines solchen Schekels Gott als Hebe.“

Sinnig lautet hier das Wort der Weisen: Als Mosche das Wort Gottes hörte: „Jeder gebe die Sühne seiner Person,“ erschrak er und dachte, wer kann Sühne für sein persönliches Dasein leisten, wer mit seinen Leistungen voll sein Dasein lohnen! „Unerschwinglich ist das Lösegeld seiner Seele und in Ewigkeit unerreichbar!“ Was kann der Einzelne leisten, das dem Wert der ihm geschenkten Seele entspräche? — Nicht, wie du glaubst, erwiderte Gott ihm, sondern , [1] זֶה יִתְּנוּ, כָּזֶה יִתְּנוּ, dies sollen sie leisten, diese Schekelhälfte sagt, was ich von ihnen fordere.

 Siehe [2] לֹא עָלֶיךָ הַמְּלָאכָה לִגְמֹר וְאֵין אִתָּהּ רָאשֵׁי לִבָּטֵל מִמֶּנָּה. „Du allein kannst das Gotteswerk nicht vollenden, aber du darfst dich nie ihm entziehen zu leisten, was du kannst!“ — Was jeder zu leisten habe, der mit den zu Zählenden gezählt werden will? Nur die Hälfte eines Schekels erwartet das heilige Werk von ihm. Keiner kann allein ein Ganzes leisten, er bedarf der Genossen um ein Ganzes zu vollbringen. Der Schekel des Heiligtums rechnet auf vereintes Wirken, der Schekel des Heiligtums bestehet aus zwei Halbganzen; zwanzig Gera, zweimal Zehn, bilden den heiligen Schekel, und nur einen solchen halben Schekel kann jeder Einzelne leisten. Für die Aufgabe des Heiligtums ist, was du leisten kannst, immer nur ein Teil und die Bruderleistung muss sich mit der Deinigen vereinen, auf dass sie ein Ganzes werden. Aber im Verhältnis zu dir und deinen Kräften und deiner Begabung muss sie „Zehn“ eine volle Summe, ein Ganzes, die ganze Summe des dir verliehenen Möglichen enthalten. Dann kannst du [3]עוֹבֵר עַל הַפְּקוּדִים, kannst du hinübertreten in die Reihen der von Israel in Israel für Israel Gezählten und Gedachten, und erst durch solche Leistung hebst du und weihst du und heiligst du deinen ganzen irdischen Wandel, hebst du dein Vergängliches zum Ewigen, hebst du dein Menschliches zu Gott!

Jeder, der hinübertritt zu den Gezählten von zwanzig Jahren an und darüber gebe die Gotteshebe.“

Wir? Unsere Kinder und unsere Greise überweisen wir dem Heiligtum. Unsere Kinder, die noch nicht und unsere Greise, die nicht mehr der Erde dienen können, glauben wir unbeschadet mit Himmlischem nähren zu können, vielleicht auch nähren zu müssen. Aber kaum ist der Knabe zum Jüngling gereift, so eilt man sein Gemüt von der Schwärmerei der Kindheit zu säubern, zeigt ihm, dass im Leben eine andere Thora, die Thora des Erwerbens, die Thora des Genießens, die Thora der Menschenehre, des Menschenurteils, des Menschenansehens gelte, und wer fortkommen wolle in der Welt, wer verdienen und genießen und gelten wolle in der Welt, der müsse sich rasch die Hemmschuhe des jüdischen Heiligtums von den Füßen lösen und sie sich — für sein Greisenalter bewahren.

Nicht also dein Gott —: „von zwanzig Jahren an und weiter,“ eben in der Vollkraft deiner Männlichkeit wartet Gott und sein Heiligtum auf dich, eben mit deinem rüstigsten Mannesstreben, mit der ganzen Begründung deiner Selbstständigkeit auf Erden sollst du Gott dienen, als Jüngling und Mann zur Wahrheit machen, was deine Knabenbrust heiligend erfüllt, dann wird dein Greisenalter noch männlich sein und im hohen Alter du noch im Heiligtum Gottes für Erd‘ und Himmel blühen.

Der Reiche kann nicht mehr geben und der Arme nicht weniger als die Hälfte eines Schekels die Gotteshebe zu spenden für eure Personen zu sühnen.“

Siehe da die Gleichheit im Gottesreich! Die einzige Gleichheit, die der Menschheit im Ganzen und jedem Einzelnen erreichbar! An Gaben und Kräften, an Gütern und äußern Glückesstufen werden die Menschen von je her verschieden bleiben. Denn gar mancherlei Schaffner und Diener braucht der Meister für das große Werk des Heiligtums, an dem wir alle mit allem zu arbeiten berufen sind. Aber an Wert und Bedeutung an innerer Würde und Hoheit, an sittlicher, ewiger Größe können und sollen wir alle gleich sein, gleich zu werden streben. Ob der eine reich, der andere arm, der eine stark, der andere schwach, gesund der eine, krank der andere, der eine geistig begabt, von mindern Geistesgaben der andere, das scheidet nicht die Rangesstufen im Gottesreich. Leiste nur jeder mit seinem Maaß von Kräften in seiner Lage, seiner Stellung, in dem ihm angewiesenen Kreis, für Gott und die Förderung seines heiligen Werkes auf Erden das volle Maaß des Möglichen, sei jeder nur ein treuer Diener am Gottesheiligtum und wir wiegen auf der heiligen Gotteswaage alle gleich. Ob der Gebieter über Millionen Millionen gespendet, der Reichbegabte Welten erleuchtet, Welten erlöst; der nach Pfennigen Rechnende Pfennige geweiht, der Bescheidenbegabte sein treues Wirken in dem engen Umkreis einer Menschenhütte begrenzt — haben sie beide das volle Maaß des Möglichen geleistet, einen vollen — halben Schekel hat jeder von ihnen gebracht. „Der Reichste kann nicht mehr, der Ärmste soll nicht minder leisten als eine Schekelhälfte zur Gotteshebe des Heiligtums!“

Und wenn es eben keine andere reine, dauernde, nimmerzutrübende, immerzufindende Seligkeitsfreude gibt, als das frohe Bewusstsein erfüllter Pflicht, als das frohe Bewusstsein zu sein, seine Stelle auszufüllen, mitgezählt zu werden, von Gott in seinem Reich mitgezählt zu werden, kein verlorenes Leben zu leben, in der Pflichttätigkeit den Zoll fürs gewährte Dasein voll zu leisten, „mit seiner Leistung fürs Heiligtum seine Person, sein Einzeldasein zu sühnen“ — siehe, so ist auch eben hiermit für alle auf jeder äußern Stufe die gleiche Quelle ewig ungetrübter, seliger Heiterkeit schon im Diesseits geöffnet, alle gleich bedeutend, alle gleich selig im Gottesreich, und alle mit gleicher Liebe von Gottes Vaterhuld bedacht!

In Gottes Hände legt jeder seinen treuen halben Schekel nieder. Alle halben Schekel fügt Er zum Gesamtbau seines Heiligtums, und in diesem treuen Mitwirken an dem Gotteswerk auf Erden findet jeder seine Stelle, seine Bedeutung, seine Berechtigung, sein Andenken, seinen Segen!

Die Spende der Sühne nimmst du von Israels Söhnen und verwendest sie zum Dienst des Stiftzeltes, so wird sie den Söhnen Israels zum Andenken vor Gott, Eure Personen zu sühnen!“ —

Das ist die Schekalim-Lehre des Gotteswortes, und alljährlich mit dem Eintritt des Adars ging der Ruf durch alle Israel-Kreise, den halben Schekel zum Gottesheiligtum zu senden, auf dass mit Beginn des Frühlingsmonates schon die Gesamtopfer[4] aus dieser neuen Schekelsammlung bestritten werden konnten, in welcher jeder Jude nah und fern durch seinen halben Schekel sich erneut als Sohn der jüdischen Gesamtheit, als Glied des jüdischen Bundes, als Mitträger und Mitarbeiter am jüdischen Heiligtum bekannt hatte.

Und wenn auch das äußere Heiligtum in Trümmern liegt, und Schutt nur die Stelle des Altars bezeichnet, auf welchem unsere Gesamtopfer zu Gott empor duften durften, der Geist dieses Heiligtums, die Gesinnung dieser Opfer, ist noch die Summe unserer Aufgabe auf Erden. Alljährlich, vor oder mit dem Eintritt des Adars, tritt daher diese Schekel-Lehre neu vor unsere Seele, das jüdische Gesamtgefühl und das Bewusstsein in uns zu erneuern, dass wir alle, alle dem großen jüdischen Gesamtheiligtum angehören, auf jeden von uns dieses auf Erden zu vollendende heilige Gotteswerk rechne, und nur in dem treuen Anschluss an diese heilige jüdische Aufgabe jeder von uns seine Stelle, seine Bedeutung, seine Berechtigung, sein Andenken, seine Sühne finden könne und seinen Segen, auf dass wir dem großen Frühlingsmonat unserer Nationalgeburt mit jüdischen Gedanken, mit jüdischer Gesinnung, mit erneutem, frischem, lebendigem jüdischen Hochgefühl entgegen gehen mögen.

[1] Talmud Jeruschalmi; Schekalim 1:4 „Er sagte zu ihm: Das sollen sie, so sollen sie geben“. (s. Ex. 30:13)

[2] Dieses Zitat habe ich so nicht gefunden. Was ich gefunden habe, steht in Pirke Avot 2:16: לֹא עָלֶיךָ הַמְּלָאכָה לִגְמֹר, וְלֹא אַתָּה בֶן חוֹרִין לִבָּטֵל מִמֶּנָּה. Es liegt dir nicht ob, die Arbeit zu vollenden, du bist aber auch nicht soweit frei, dich ihrer zu entledigen.

[3] Exodus 30:13. „Das soll jeder geben, der durch die Musterungen geht

[4] das tägliche Opfer sowie sämtliche Gemeinschaftsopfer an Neumond- und Feiertagen wurden aus dieser Sammlung bestritten.

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