Ijar.

Von Pessach bis Schawuoth werden allabendlich die Tage gezählt. Diese Zeit heißt Omer- oder auch Sefirazeit. Diese Zeit ist für uns Juden eine Trauerzeit, weil besonders während dieser Tage uns Juden auf übelste Weise mitgespielt wurde. So fällt in diese Zeit auch der Beginn der Kreuzzüge. Die Gemeinden in Worms, Speier und Mainz wurden fast komplett ausgelöscht.

Dieser Artikel von Herrn Rabbiner Samson Raphael Hirsch s“l entstand zu einer Zeit, da es das wehrhafte, jüdische Volk in Israel noch nicht gab und sich niemand vorstellen konnte, dass es je wieder dazu kommt, dass Juden auf jüdischem Boden u.a. auch wieder Landwirtschaft werden betreiben können.

Neben der zionistischen Organisation, die die Besiedlung Palästinas hin zu einen „Judenstaat“ hin forderte, gab es auch die Aguda, eine Organisation, die die Besiedlung Palästinas hin zu einem „Gottesstaat“ verlangte. Rabbiner Hirschs Enkel, Dr. Isaac Breuer, einer der führenden Köpfe der Agudabewegung, formulierte die gegensetzlichen Auffassungen zwischen den Zionisten und den Agudisten anläßlich einer Gedenkfeier zu Ehren seines Großvaters im Jahr 1935 folgendermaßen: „Die Geschichte des jüdischen Volks im Galuth ist die Geschichte des Gottesworts im Galuth, ist die Geschichte des kommenden Gottesstaats, der im Zeichen des והיה in jede Gegenwart als Wirklichkeit rejiziert ist. Versteht man unter einem Nationaljuden einen Juden, der bewusst sich als Bürger des kommenden Gottesstaats fühlt und für diesen kommenden Gottesstaat bewusst die Arbeit seines Lebens einsetzt, so ist Rabbiner Hirsch der erste moderne Nationaljude. Lang ehe Theodor Herzl die falsche Vision des Judenstaats hatte, kündete Rabbiner Hirsch die ewig wahre Vision des Gottesstaats. Nur und nur im Hinblick auf diesen kommenden Gottesstaat mit seinem herrschenden Zion und seinem beherrschten Jeruschalaim schritt er freudig zu der ungeheuren Geistesarbeit der Überwindung des neuen דרך ארץ durch das ewig unwandelbare Gotteswort, denn dieser neue דרך ארץ , war ihm in Wahrheit der דרך ארץ des kommenden ארץ ישראל. Dem kommenden ארץ ישראל zunächst das jüdische Volk selbst aufbauen, ihm die Thoragrößen zu gewinnen, die die Vielgestaltigkeit des Lebens kennen, um sie nach der Form der Thora zu formen, ihm die Kaufleute, die Mediziner, die Naturforscher, kurzum die geistigen Kräfte in höchster Thoratreue zu erziehen, deren es einst bedürfen wird das war der tiefste geschichtliche Sinn der Lebensleistung Rabbiner Hirschs für die Zukunft.“

So ist der hier abgedruckte Artikel aus der Zeitschrift „Jeschurun“ 1. Jahrgang, Heft 8 aus dem Jahr 1855 zu lesen.

Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2932816.

Die Sefirah.

Wenn die Sichel angefangen am Getreide
Fängst du an zu zählen
Sieben Wochen. [1]

Wenn Israel in „seinem Lande“ das Fest seiner politischen Auferstehung im [2]חֹדֶשׁ הָאָבִיב, im „Ähren-Monat“ feierte, hatte bereits das Frühkorn seine erste Reife erlangt und harrte der schneidenden Sichel.

Aber dieses Fest, an welchem alljährlich sich Israel in seine ursprüngliche Armut, in seinen ursprünglichen, der Freiheit, der Selbstständigkeit des Bodens, des Anrechts an den Gütern der Erde verlustigen Zustand zurückfühlen sollte, das Pessachfest musste erst vorüber sein, das Mazzahfest erst begonnen haben, ehe die Sichel beginnen durfte, das neue Korn zu schneiden. So lange war Sabbath für den Schnitter, — auf dass dieser Schnittersabbath Israel in Gott den Schöpfer seines Volksdaseins, den Eigner und Lehnsherrn seines Volksbodens erkennen und verehren lehren möge, wie der Weltsabbath die Menschheit auf ihren Schöpfer und Meister, auf den Eigner und Lehnsherrn ihrer Erde hinweisen sollte.

Mit dem 15ten Nissan, nachdem Israel bereits einen Tag das Brot seines alten „Elends“ genossen, ging dieser Schnitter-Sabbath zu Ende, und Israel trat in den Vollgenuss seines Bodens.

Aber wenn nun מִמָּחֳרָת הַשַּׁבָּת, nach Beendigung dieses Sabbaths, munter „die Sichel am Korn angefangen,“ hatte Israel nicht nur noch ferner auch während des Vollgenusses seines Bodens noch 6 Tage das Brot der Armut zu genießen (ששת ימים תאכל מצות, ששה מן החודש (ספרא)), auch noch während des Vollgenusses seines Bodens sich die eigene Unselbstständigkeit zu gestehen, sich zu gestehen, dass es diese Fülle nur Gott verdanke und ohne Gott noch jetzt das Brot der Armut essen würde — nein,[3] מֵהָחֵ֤ל חֶרְמֵשׁ֙ בַּקָּמָ֔ה, wenn schon die Sichel angefangen am Getreide, wenn Israel schon das Ziel erreicht hat, das den Höhepunkt des Nationalstrebens anderer Kreise bildet, Freiheit und Selbstständigkeit hat, Land und Boden hat, Frucht und Getreide hat auf eigenen Äckern und Feldern, da, wo andere aufhören zu streben und zu zählen, fängt Israel erst an Tage und Wochen bis zu dem Tage zu zählen[4], an welchem es den Empfang des Gutes feiert, für welches es Freiheit und Selbstständigkeit, Land und Boden, Äcker und Felder erhalten, das allein erst seiner Freiheit und Selbstständigkeit, seinem Land und Boden, seinen Äckern und Feldern Wert und Bedeutung verleiht, ohne welches alle diese Nationalgüter wertlos und bedeutungslos werden, ja das ganz eigentlich Bedingung und Boden seiner Nationalität bildet, das somit in Wahrheit sein einziger Nationalboden und sein einziges Nationalgut ist und bleibt.

Den Wert der Thora dem Freiheit und Boden besitzenden Israel in die Seele zu rufen, — dem Staat im Ganzen und jedem Einzelnen in diesem Staate zuzurufen: Das Land, das ihr besitzt, die Äcker die euch blühen, die Früchte die euch reifen, sind eure Götter und Güter nicht, sind nicht die Träger und nicht die Zwecke eurer Nationalität, eures Volks- und Einzellebens und Strebens, für die Thora ward euch dieses alles, für die Thora habt ihr es, ohne die Thora verliert ihr es, und dieses ganze Land mit all seinem Überfluss an Milch und Honig, und das ganze, freie, reiche Volksleben, das in ihm aufblüht, ist nur Mittel, hat nur den einen Zweck, nur die eine Bestimmung, mit dieser Freiheit und Fülle ein Gesamt- und Einzelleben zu entfalten, wie es euer Gott und Herr euch in Seiner Thora gezeichnet — diesen bedingungslosen Wert der Thora und den bedingten Wert aller übrigen Güter uns in die Seele, ans Herz zu reden, das war die Bedeutung der סְפִירָה, das war die Bedeutung der Tage und Wochen, die ב’ד וכל אחד ואחד, die die Repräsentanten der jüdischen Gesamtheit, so wie jeder Einzelne in Israel מֵהָחֵ֤ל חֶרְמֵשׁ֙ בַּקָּמָ֔ה, vom Anfang der Sichel am Getreide bis מַתַּן תּוֹרָה bis zum Fest der Thoragebung zu zählen hatte.

Als Israel diese Zählung vergaß, als es aufhörte auf seine Thora zu zählen, die Thora als Hauptfaktor seines Nationallebens zu betrachten — als es anfing Freiheit und Selbstständigkeit von seinem Land und Boden zu erwarten und Land und Boden als sein nach Völkerweise zu besitzendes, nach Völkerweise zu wahrendes Eigentum zu betrachten[5] — als es meinte auf sein Land und seinen Boden zählen zu dürfen, der Thora entraten und Brot und Boden, Freiheit und Selbstständigkeit ohne Thora sich erhalten zu können, als „die Zahl seiner Städte Judas Götter“ geworden waren — da verlor es Land und Boden, Freiheit und Selbstständigkeit, rettete nichts als die Thora, auf die es im Land nicht mehr gezählt, — und wandert nun bald zweitausend Jahre in der Fremde, — und es kreisen die Zeiten, und es leuchtet die Sonne und es tränkt der Tau, aber ihm sprießen keine Saaten, ihm blühen keine Felder, es schwingt keine Sichel mehr an eigenes Getreide, auf eigenem Boden, weil — in dieser „Sichel“ seine Bestrebungen enden wollten, und es nicht von dieser Sichel erst anfangen wollte zu seiner Thora hin zu zählen! Seitdem es die Sichel vergötterte — hat es die Sichel verloren!

Und doch zählen wir noch, zählen, nach der Anordnung unserer tiefblickenden Weisen auch jetzt, bodenlos, ackerlos, noch, nicht von dem Tage, an welchem wir, die Armen! die Sichel an das Getreide schwingen — sondern von dem Tage, an welchem die Väter auf freiem, eigenem Boden einst die erste Sichel an das neugereifte Korn schwangen, Tage und Wochen zum Tage der Thora! Ist diese Zählung Ironie? Ist diese Zählung wehmütige Trauer? Bedürfen auch die armen Bodenlosen, Ackerlosen, bedarf der seit zwei Jahrtausenden jedes eigenen Bodenrechts beraubte Menschenstamm noch der Warnung: dieses Bodenrecht, diesen Land- und Bodenbesitz nicht zu überschätzen? Bedarf auch er noch der Mahnung Land und Boden nur als Mittel zur volleren Erfüllung der Thora zu schätzen, Land und Boden wertlos zu achten, so deren Besitz — nicht zur Thora führt?

O, die Erfahrung unserer Tage hat uns die volle Bedeutung dieser Zählung, den vollen Ernst dieser Mahnung auch für uns kennen gelehrt!

Wir haben die Zeiten erlebt, wo Söhne Israels an den Stufen der Throne, an den Pforten der Kammern — die Thora im Arme — um das Recht der Heimat, um das Recht des Land- und Acker-Besitzes bettelten, und dieses so lange versagte, so zögernd und schwankend bewilligte Recht, so sehr überschätzten, dass sie sich bereit erklärten, die Thora, dieses ihr heiligstes, einziges Nationalgut zum Achtel, zum Viertel, zur Hälfte preiszugeben, um dafür ein ganzes, halbes, viertel, achtel Recht der Ansiedelung, der Einwurzelung in den Boden der Geburt zu erlangen, dass sie sich bereit erklärten, die „Thora“ für die „Sichel“ zu verkaufen.

Wir haben die Zeiten erlebt, wo man das jüngere Geschlecht gewöhnte, die „Berechtigten“, die „Besitzenden“, „Bodengetragenen“[6] zu beneiden, den Besitz der Thora zu hoch um den Preis des Einbürgerungsrechts erkauft zu achten, die Thora als Hindernis auf dem Weg zur Freiheit, zur Selbstständigkeit, zur „Sichel auf eigenem Acker“ geringzuschätzen, oder ihr dadurch nur noch einen Rest von Hochachtung zu retten, dass man die Gewissen durch das Opiat der Lüge betäubte: sie selbst fordere gar nicht solche Opfer, sie meine ihre Anforderung gar nicht so ernst, sie habe ihre heiligsten Gesetze nur mit der stillschweigenden Klausel, nur unter Vorbehalt eines geheimen Artikels gegeben, dass man alles nur zu halten brauche, so lange es auf dem Weg des bürgerlichen Fortkommens nicht hindere, sie selbst achte die Sichel viel höher als sich selbst und weiche gerne wo sie die Schwingungen der Sichel störe!

Wir haben die Zeiten erlebt, wo der Vater der Menschheit gezeigt, wie leicht es ihm sei sein Volk zu erlösen, welch tiefe Wurzel trotz allem, trotz allen verjährten, tiefanerzogenen Wahnes jahrhundertlanger Verkennung, doch das Gefühl des Rechts und der Menschlichkeit und des Gottgedankens in dem tiefen Grund der Völkerherzen noch habe, wie nur die Ereignisse, die großen Schicksalszungen mit ihrem welterschütternden Donner, mit ihren welterleuchtenden Blitzen die Menschheit auf die volle Höhe ihres ureigenen Bewusstseins zu heben brauchen, — wie nur einmal Gott mit den Flammen seines Rechtes und mit dem Paradieseshauch seiner Liebe die Brust der Menschen recht zu fassen brauche und die großen Götter des Wahnes und des Hasses, und die kleinen Götzen der Selbstsucht, der Engherzigkeit, des Interesses, der Beschränktheit und — der Einfalt liegen für immer in Trümmern — die erlösungssüchtige Menschheit beugt sich selbst nieder zu dem von ihr seit Jahrtausenden gefesselten Brüderstamm, durch Lösung dieser Fesseln sich erst selbst der Erlösung würdig zu zeigen, Israel, das errettete Israel, dem Einigeinzigen als Pfand der Huldigung, als Weihegabe der Anerkennung darzubringen — und damit das Weh der Zeiten und die Sühne der Welt zu schließen.

Es war ein Traum — es war eine vorüberflatternde Verzückung der Völker[7] — die Menschen waren selbst von dem Göttlichen überrascht, das noch in ihrem Herzen wohnte, überrascht von der überwältigenden Macht, die die Stimme der Wahrheit und des Rechts in einem reinen, gehobenen Moment des Bewusstseins noch über sie zu üben im Stande war, überrascht von der Opferfreudigkeit, deren sie sich in geweihten Augenblicken gesteigerten Menschenseins fähig erfanden — sie sind längst entnüchtert die Menschen, sind längst wieder hinabgesunken zu beschränkter, engherziger Wirklichkeit, wo Humanität und Recht nur gelten — so sie mit den „höheren“ Interessen des „Interesses“ nicht kollidieren, wo die Fesseln nicht schmerzen — die man — andern bereitet, wo man der „Schwärmerei“ sich schämt, in welche das Herz, das menschliche Herz, das Göttliches ahnende Herz dem berechnenden Verstand einen Sieg abgerungen — man ist längst bemüht diesen Rechnungsfehler wieder gut zu machen und die Spuren so unkluger Schwäche zu verwischen — und doch war jener Traum eine noch höhere Wirklichkeit, war dämmerndes Zeichen, dass die Mitternacht doch vorüber, war doch ein Vorbote jener Wahrheit, welcher die Ewigkeit angehört, war ein  Spiegelblick, ein Blitz, der der Menschheit — aber auch Israel die Tiefen ihres Herzens erhellte, der der Menschheit ihre Zukunft, Israel aber seine Gegenwart beleuchtete.

Denn in jenen Tagen des gehobenen Bewusstseins erlebten wir es zugleich, wie weit, weit ab Israel noch von der Höhe sei, auf welcher ihm die Erlösung dämmern dürfte, weit ab von jenem ספירה-Geist, der nun, wenn ihm „der Acker und die Sichel“ geworden, nur mit noch erhöhtem Eifer, nur mit noch freudigerem Ernst zur Thora hinzählen würde. — — Als ob die Thora nur für das Galuth gut gewesen, als ob dieser geistige Boden nur Ersatz für den materiellen hätte sein sollen, neben dem materiellen aber seine Bedeutung verlöre — als ob die Thora nur Trost für Knechte, nicht aber Stolz und Diadem, Kraft und Leben den Freien zu bringen hätte — als ob Israel nur darum Jahrhunderte lang für seine Thora gelitten, für seine Thora geblutet, damit einst seine erlösten Enkel das Gut verächtlich bei Seite würfen, für welches die Väter geblutet und gelitten — sahen wir Söhne Israels schon von der bloßen Hoffnung des „Sichelglanzes“ so geblendet, dass sie mit den Banden des Galuth auch die Bande des göttlichen Gesetzes fallen wähnten, und der vermeintliche Posaunenruf der Freiheit — die Säulen des jüdischen Heiligtums erschütterte.   מִמּ֣וּל שַׂלְמָ֔ה אֶ֖דֶר תַּפְשִׁט֑וּן [8], Israel war bereit in Hoffnung eines „Hemdes“ seinen „Talar“ auszuziehen — — Auf die Probe hatte uns Gott gestellt, aber wir haben die Probe schlecht bestanden.

Der tiefer Blickende hätte sich damals schon sagen müssen, in solche Erbärmlichkeit könne das große, einzige Weltdrama des jüdischen Galuth nicht enden. Ward Juda ins Galuth gewiesen, weil es Land und Boden als Träger seiner Freiheit und Selbstständigkeit unter Geringschätzung der Thora überschätzte, so kann das Galuth nicht mit derselben Verblendung enden, so kann die Erlösung uns nur dann werden, wenn uns die Galuthjahrhunderte endlich zu der reinen Höhe geführt, dass wir die wieder zu gewinnende Freiheit, die uns wieder zu gewährende Selbstständigkeit, den uns wieder zu verleihenden Besitz des seit Jahrtausenden unser harrenden Bodens auf dem Weihealtar der Thora rein nur im Dienste Gottes verwenden würden, dass wir mit der wiedergeschenkten „Sichel“ nicht wieder aufhören würden Juden zu sein, sondern „wenn erst die Sichel am Korn auf eigenem Acker begonnen,“ wir dann erst recht anfangen Juden zu sein, unsere jüdische Aufgabe in noch reicherer Fülle zu lösen und mit freier selbstständiger Kraft in noch erhöhterem Ernste dem Ziele der Thora entgegenzustreben.

Diese Probe, der zweite Akt unserer Galuthprüfungen, harret noch unser.

Den ersten, die Leidensprobe, hat Israel glänzend bestanden.

Eben diese ספירה-Tage sind es ja, in denen Israel Jahrhunderte lang die höchsten Proben ablegte, wie es in Leiden den ספירה-Geist zu bewähren verstehe, wie es alle irdischen Güter und Freuden, wie es das ganze irdische Leben mit all seinem süßen, teuren Inhalte für nichts zähle, so es dabei von seinem einzigen Gott und seinem heiligen Wort zu lassen genötigt sein sollte, wie es jeden Augenblick bereit sei, die Erde hinzuwerfen, um seinem Gott in die Arme zu eilen.

Zweihundert Frühlinge fast zogen in dieser ספירה-Zeit blutrot über Israels Häupter herauf, und wenn Israel von der alten Erlösung und der verlorenen Sichel zur ewigen Thora hin zu zählen begann, drang durch das düstere Gewölk der Zeiten, mit immer neuem Ernst, mit immer neuen Schrecken, die Frage des Einigeinzigen an Israel: „Bist du noch mein? Israel!“ Dein, im Leben und Sterben!“ antwortete Israel — und starb.

Das Zeichen, das in allen andern Gedankenkreisen eine noch erst zu ergänzende Größe, die noch erst zu erwartende Vollendung, oder das noch Unbekannte, das erst zu suchende Etwas bedeutet, das Zeichen, als Zeichen der vollendeten Herrlichkeit auf das Grab eines verstorbenen Juden zu pflanzen, erhuben sich die Völker, wie der Zug der Vögel zur bessern Heimat, zog’s die europäische Menschheit zur jüdischen Heimat, zum Boden der einstigen, vergangenen und künftigen  jüdischen Größe hin[9] — und sie meinten die Heilswahrheit jenes Zeichens erst mit jüdischem Blute besiegeln und zum alten jüdischen Grabe über Hunderttausende frischer, jüdischer Gräber wallfahrten zu müssen!

Sollen wir jene זוּלַת[10], jene ספירה-Erinnerungen aus unsern Gebeten streichen, sollen wir das Gedächtnis der Tage verwischen, in welchen Israel das: אֵן אֱלֹקִים זוּלָתֶךָ, das: „Kein Gott außer Dir!“ mit Orgelklang und Chorgesang, wo es dies sein Bekenntnis mit dem Herzblut seiner Männer und Frauen, seiner Jünglinge und Jungfrauen, seiner Mütter und Bräute, seiner Kinder und Säuglinge, mit dem Brandschutt seiner Synagogen und Häuser, mit dem Raubopfer seiner Habe und Heimat verherrlichte, — das Gedächtnis dieser — Siegeszeiten Israels, sollte Israel dies vergessen?!

O, dass wir es aufzufrischen verständen, dieses Gedächtnis unserer großen Zeiten, dass wir einen Funken jener alten Begeisterung für Gott und sein heiliges Wort in unseren erschlafften Herzen zu wecken verständen, o, dass es einer verstände die Männer und Frauen die Söhne und Töchter, die Knaben und Mädchen unserer Zeit im Geiste um die Leichen-Hügel und Hügelein jener für die Thora Gestorbenen zu sammeln, dass es einer verstände die Begeisterung, die Opferfreudigkeit, die Standhaftigkeit, die Klarheit, die Ruhe, die stille Seligkeit und Besonnenheit zu zeichnen, mit denen die Väter und Mütter, die Jünglinge und Jungfrauen, die Knaben und Mädchen jener jüdischen Zeit offenen Auges in Flammen und Fluten, unter Dolchen und Schwertern freudig den Tod empfingen und  שְׁמַע יִשְׂרָאֵל[11] und עָלֵנוּ לְשַׁבֵּחַ[12]   die auf Scheitern erlösten Seelen himmelwärts hob. Da würden wir lernen „hold im Leben, untrennbar selbst im Tode“ mit unserm Gott vereint zu bleiben, da würden wir lernen „adlerleicht und löwenstark“ „den Willen unseres Herrn und Meisters“ zu erfüllen da würden wir uns schämen lernen der kleinen geringfügigen Opfer zu gedenken, die das Judentum heute von uns fordert, da würden wir, an den Gräbern der heimgegangenen Väter würden wir schwören, dafür nun zu leben, wofür jene gestorben und die Treue nun im Leben zu bewähren, die jene mit dem Tode besiegelt!

Aber auch ihr, nichtjüdische Männer, die ihr wieder im Rat der Völker[13] das Geschick der Juden abgewogen und erwogen, oder abzuwägen und zu erwägen im Begriffe steht, wie viel von dem Recht, dem einen unteilbaren, für keine oder für alle heiligen Rechte, für den Juden zur Geltung kommen solle, die ihr das Heil der Staaten damit zu gründen vermeint irgendwelche Genossen des Staates aus dem einen für alle andere gültigen Recht auszuschließen — ehe ihr wiederum die schwarze oder graue Kugel in die Urne des jüdischen Geschickes legt, richtet euer Auge auf jene Zeiten, die wir eben genannt! Da ist keiner unter euch dem nicht das Blut stocken würde beim Gedächtnis der Gräuel, die eure Väter an den Juden ihrer Zeit sich erlaubt. Da ist keiner unter euch, der je Teil haben möchte an der Wiederkehr solcher Gräuel. Und doch, — nicht der, der dem Geächteten den Dolch in die Brust stößt, hat ihn getötet, sondern der, der über den Unschuldigen die Acht[14] ausgesprochen! Meint ihr, es habe in jenen alten dunkeln Zeiten keine Edlen unter euren Vätern gegeben, die, wie ihr, jene verübten Gräuel aus vollem Herzen verdammten, deren Blut wie das eurige bei dem Angstgeschrei der erwürgten Kinder und Säuglinge erstarrte? Die Schriften, die uns aus jenen Zeiten überkommen, vergessen es nicht, dankbar der nichtjüdischen Edlen zu gedenken, die die armen Schlachtopfer des Wahnes gern gerettet. Aber sie vermochten es nicht — weil sie diese Schlachtopfer längst zuvor im Leben aus dem Genuss des allgemeinen Rechts gestrichen und nun der entzügelten Leidenschaft nicht zu sagen vermochten: bis hierher und nicht weiter. Kein Gesetz hat es in seiner Macht, das Recht bis zu einem gewissen Grade zu versagen und dem weiter schreitenden Unrecht mit Erfolg entgegenzutreten. Nehmt irgendeinen Menschen, und erklärt ihn — sei`s auch aus der wohlmeinendsten Absicht — irgend eines Teils des einen unteilbaren Rechtes unwürdig und ihr habt ihn damit wider euren Willen und eure Absicht der Leidenschaft und dem Wahn im Voraus als einen Gegenstand bezeichnet, auf den sich ihre Wut strafloser entladen dürfe. Daran denkt, und vergesst auch nicht, dass der trostlose Zustand der jüdischen Vergangenheit sich auch nicht auf einmal erzeugt. Aber die erste Parzelle eines an sich vielleicht wenig bedeutenden Rechtsgenusses, die man versagte, stellte den Juden als „Ausnahme“ hin, der man nicht alles Recht schulde — und hatte somit den Grund zu allem Folgenden gelegt. Oder meint ihr etwa, die „Aufklärung“ der Zeit bürge für Nimmerwiederkehr solchen entfesselten Fanatismus? Seht euch um — seht die Zeichen der Zeit, — und seit gewarnt!

Wir aber, wie auch der Gott der Zeiten über uns gebieten möge, von der verlorenen, von der verliehenen, von der versagten „Sichel“ wollen wir immer zur „Thora“ zählen, wollen an dem einen einzigen durch allen Zeitwechsel und alle Meinungswirren sicher und siegreich leitenden Grundsatz festhalten, dass dem jüdischen Geschick wie dem jüdischen Leben kein anderer Boden gefunden und verheißen werden könne, als die mit immer wachsender Treue zu erfüllende Lösung des gottverliehenen Gesetzes, festhalten daran, dass auch die „Sichel“ für uns den Wert verlöre, wenn wir nur mit Verlust der Thora sie zu erkaufen, mit Verletzung der Thora sie zu schwingen vermöchten, dass wir nur dann mit der einen Hand die Sichel ergreifen dürften, wenn wir umso fester mit der andern die Thora umarmen würden — wollen diesem Grundsatz gemäß in uns und unsern Kinder den ספירה-Geist wecken, in der Freiheit und im Leben also jene Thora-Treue zu bewähren, wie sie die Väter glänzend im Druck und im Tod bewährt, und wollen dann vertrauend der Zeit entgegenharren, wo Gott einst wieder auf dem ureigenen Acker uns die Sichel in die Hand geben könne, überzeugt: dass wir dann nicht wieder mit dem Anfang der Sichel aufhören werden Juden zu sein, sondern dann erst recht beginnen werden zu seiner Thora hin strebend zu zählen:  מֵהָחֵ֤ל חֶרְמֵשׁ֙ בַּקָּמָ֔ה תָּחֵ֣ל לִסְפֹּ֔ר שִׁבְעָ֖ה שָׁבֻעֽוֹת


[1] Deuteronomium 16:9

[2] Frühlingmonat

[3] Deuteronomium 16:9; … vom Beginn der Sichel am Getreide … (Übersetzung Rabbiner S. R. Hirsch)

[4] bis zum Wochenfest (Schawuoth)

[5] So wie es bis heute die Zionisten tun

[6] die „Berechtigten“, die „Besitzenden“, die„Bodengetragenen“, das sind die Bauern eines Landes

[7] Die Französische Revolution 1789 „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“

[8] Micha 2:8; Um eines Hemdes wegen zieht ihr das Prachtgewand aus (Übersetzung Dr. Mendel Hirsch)

[9] Die Kreuzritter

[10] Gebete während der Omerzeit, die die Vernichtung der jüdischen Gemeinden in Worms, Mainz, Trier, Speier usw. durch die Kreuzritter beweinen.

[11] „Höre Israel“ das Glaubensbekenntnis der Juden

[12] „An uns ist es zu preisen“ Gebet aus dem 3. Jahrhundert, zunächst an den Hohen Feiertagen gesprochen, heute das Abschluss-gebet jedes Gottesdienstes

[13] Damals der Völkerbund heute die UNO

[14] https://learnattack.de/schuelerlexikon/geschichte/reichsacht: Reichsacht, besondere Form einer weltlichen Strafe im Unterschied zum Kirchenbann. Wurde über jemanden die Acht verhängt, bedeutete dies die Recht- und Friedlosigkeit des Geächteten, seine Isolierung von der menschlichen Gemeinschaft und die Zerstörung oder Beschlagnahmung seines Besitzes. Jeder hatte das Recht, den Geächteten straflos zu töten.

.

  • Beitrags-Kategorie:Monatsblatt