Der Autor dieses Artikels aus der Zeitschrift „Nahalat Zwi“, Jg. 7, Heft 7-9 aus dem Jahr 1937 zeichnet lediglich mit seinem Synonym P.K. Er führt uns an den Ganges und sieht Parallelen zwischen dem Hinduismus und dem Judentum. Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unter https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2554132?query=zehn

An den Ufern des Ganges herrscht heute noch eine Weltanschauung, welche in dem Bekenntnis gipfelt: tat tvam asi[1] „das bist Du״, in der Sprache unserer Tage heißt das die Erkenntnis von der Einheit des Weltganzen. Alles Belebte und Unbelebte fließt ineinander, und zwar nicht nur in dem subjektiven Weltbild des Einzelnen, sondern als Tatsache, als Lebensbedingung und Lebensäußerung einer Weltseele. Mit dem Begriff der Seele aber verbindet sich der Begriff der Unvergänglichkeit. So fließen auch die aufeinanderfolgenden Generationen ineinander, sich gegenseitig verpflichtend und ergänzend.

Die vergleichende Religionswissenschaft pflegt bei Parallelerscheinungen auf dem Gebiet des denkenden Glaubens und des gläubigen Denkens einer Untersuchung Raum zu geben, welcher von den Parallelen zeitlich die Priorität zukommt, welche die andere, wenn nicht geschaffen, so doch mindestens beeinflusst hat. Im Großen und Ganzen dürften diese Forschungen selten einen einwandfrei klaren Erfolg erzielen. Es gewinnt immer mehr Raum die Anschauung, welche alles uns Bekannte auf diesem Gebiet als sekundär, als Restbestand einer alten Uroffenbarung, bzw. je nach dem Standpunkt des Forschers, eines alten Urglaubens, mehr oder minder verdunkelt oder entstellt anzusprechen geneigt ist.

Ganz fremd ist diese Grundanschauung auch unterem Judentum nicht, und zwar insbesondere in Hinsicht auf die zweite, vorerwähnte Folgerung aus dem tat tvam asi, in Hinsicht auf die Einheit der aufeinanderfolgenden Geschlechter. Und vielleicht ist dies die eindringlichste Lehre des Festes der Offenbarung. Es ist der Eingang des Ewigen und der Ewigkeit in die Vergänglichkeit der Lebenserscheinung in der Menschheit.

Untere alten Weisen s. A. kleiden diese Erkenntnis in das Wort, dass alle Seelen teilhaftig waren der Offenbarung am Berg Sinai, in die verpflichtende Mahnung, dass jeder sich so zu betrachten habe, als wäre er am Fuße dieses Berges gestanden.

Wir kommen ja eigentlich unmittelbar von einem solchen tat tvam asi – Erlebnis. Denn wenn wir an den Sederabenden uns und unseren Kindern kündeten, dass wir „dabei gewesen“, als der Auszug aus Ägypten sich vollzog, was war das anderes als eine zum konkreten Erlebnis gewordene Rückschau? Vielleicht hat deshalb die Offenbarung an dieses Ereignis angeknüpft, um gleiches für sich in Anspruch zu nehmen. So würde sich fast mühelos die Schwierigkeit lösen, die nach der Ansicht vieler Forscher und Erklärer darin liegt, dass das Wort Gottes an Israel und an die Menschheit nicht an die Weltschöpfung anschließt. Und ferner wäre auch nach diesem Erklärungsversuch das erste der zehn Gebote nicht nur eine geschichtlich gegebene Anknüpfung, sondern ein wirkliches Gebot, noch dazu ein sehr umfassendes.

Nur allzu oft haben im Laufe der jüdischen Geschichte jeweilige Zeitläufte das „Erbe der Vergangenheit“ abzuschütteln versucht, nur allzu oft lehnte man sich dagegen auf, solche Verpflichtung als bindend anzuerkennen, welche frühere Zeiten eingegangen waren. Es mag sein, dass dies der tiefe Sinn des Wortes altjüdischer Weisheit, es hätten sich die Ahnen geweigert, die Thora entgegenzunehmen, bis der Berg sie zu umhüllen drohte.[2] Die Vorahnungen solcher Zeiten, in denen das Schwergewicht der Erde kommende Geschlechter die Geschichtlichkeit und Dankbarkeit vergelten machen würde, mochte die Ahnen mutlos gemacht haben, bis ihnen gezeigt wurde, dass ohne diese Seelenregung die Erde das Dasein schal und inhaltlos gestalten würde.

In der Tat, betrachtet man die Offenbarung nur als eine Tatsache der Vergangenheit, dann wäre das Martyrium so vieler Epochen für dieses Ereignis etwas Unbegreifliches. Dazu gehört ein bewusstes Wiedererleben, ein tat tvam asi. Wir verstehen darunter nicht etwa nur das Erzeugnis der Gestaltungskraft einer schrankenlos wirkenden Phantasie, sondern einen Rückstrom der Seele zu ihrem Urquell, in dem sie geborgen war, als Wort und Mahnung am Sinai erklang, an die also auch dieses Wort und Mahnung erging, vielmehr ergeht. Es ist also die Verpflichtung zu den Geboten der Offenbarung nicht ein Erbe der Vergangenheit, das man antreten oder ausschlagen könnte, sondern ein eigenes Erlebnis. Das ist Inhalt des „Bundes, den der Ewige mit Dir am Horeb geschloffen hat“.

Diele Ausführungen möchten auch darauf hinweisen, dass die Grundlage unseres religiösen Sollens und Wollens in der altjüdischen Lehre von der Seele fest verankert ist. In zartesten Andeutungen weisen die Aussprüche unserer Weisen s. A. darauf hin. Diese Erkenntnis ist die Vorhalle zum Allergrößten, zur Leben gewordenen Teilhaftigkeit an der Sinaistunde.

P. K.


[1] Wikipedia: Tat Tvam Asi („Das bist du“, oder „Du bist das“) ist eine der Mahavakyas (Große Verkündigungen) im Vedantischen Hinduismus… Eine Interpretation des Ausspruches ist, dass das Selbst – in seinem reinen und ursprünglichen Zustand – ganz oder teilweise identisch ist mit der absoluten Realität (Brahman), dem Boden aller Phänomene.

Einer anderen Interpretation zufolge wird durch die Formulierung zum Ausdruck gebracht, dass die Außenwelt identisch ist mit dem Ich.

[2] Nach einem Midrasch, hielt Gott den Berg Sinai über den Köpfen der Kinder Israels und sagte: „Wenn ihr die Thora nicht annehmen wollt, lasse ich los!“

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