Wie ich in den vorherigen Ausgaben dieser Zeitschrift „Jeschurun.online“ bereits erwähnte, wird das Geburtstagsfest des jüdischen Volkes schon lange im Voraus angekündigt. Es sind dies ausgewählte Schabbatot, an denen ein zusätzlicher Thoraabschnitt auf das herannahende Ereignis uns vorbereiten soll. Einen diesbezüglichen Artikel finden Sie in der 5. Ausgabe zu Schabbat Schekalim, in der 6. Ausgabe zu Schabbat Para, in der Nissan-Ausgabe des vorherigen Jahrgangs zu Schabbat Hachodesch unseres Monatsmagazins. In dieser Ausgabe folgt nun Schabbat Hagadol (fällt dieses Jahr auf den 1. April, 10. Nissan) der immer auf den Schabbat vor dem Pessachfest fällt. Am Schabbat Hagadol wird kein zusätzlicher Thoraabschnitt vorgelesen, sondern der Rabbiner der Gemeinde ist verpflichtet eine Predigt zu halten.

Den hier wiedergegebenen Artikel habe ich in der Wochenzeitschrift “Jeschurun“ Neue Folge, 5. Jg., Heft 13, aus dem 1887 herausgegeben von Isaak Hirsch s“l, einem der Söhne Rabbiner S.R. Hirschs.

Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pagetext/2934744?query=Hagadolץ


Der Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erläuterungen versehen von Michael Bleiberg.

שַׁבָּת שֶׁלִּפְנֵי הַפָּסֶח קוֺרִין אוֹתוֹ שַׁבָּת הַגָּדוֹל מִפְּנֵי הַנֵּס  שֶׁנַּעֲשָׂה בּוֹ[1]

Der Sabbath vor Pessach wird der große Sabbath genannt wegen des an ihm geschehenen Wunders — also lautet die kurze Notiz in unserem Ritualkodex. Der zehnte Nissan des bedeutungsvollen Jahres, da Gott die ibrischen[2] Sklaven aus der mizraitischen[3] Knechtschaft befreite, um aus ihnen „ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk“ zu erbauen, war ein Sabbath, und für diesen Tag ward an der Sklavenkaste Ägyptens ein großes, wunderbares Werk vollzogen.

Seit dem ersten Sabbath der Schöpfung, dem Dokument der ewigen Gottesherrschaft über das Universum und jedes Wesen in demselben, fehlte nachdem tief sinnigen Ausspruch unserer Weisen im Menschenkreis der Verkünder dieser einzigen Majestät, der Herold dieses Gottesreiches, in welchem die Menschheit die erste Stelle bewusst einzunehmen berufen ist. Dieser [4]בֵּן זוּג des שַׁבָּת [5] sollte geschaffen werden, in den unter dem ägyptischen Sklavenjoche seufzenden Nachkommen Jakob-Israels sollte er erstehen. Es sollte ein Volkskreis geschaffen werden, welcher über alle irdischen Mächten Gott allein die Huldigung zollt und in dieser Gott allein geltenden Huldigung der Machtsphäre in ihrem Wesen selbst unfreier und gebundener Gewalten entrückt wird — ein aus freiem Entschlüsse sich Gott beugender, Gottes Herrschaft durch die freie Tat bekennender Volkskreis. Der unter des gewaltigen Tyrannen Fußtritt dem Verenden nahe Sklave sollte des frei und allmächtig die Welt lenkenden Gottes Herold an die Menschheit werden.

Gibt es ein größeres Wunder, eine sprechendere Verkündigung der alles überragenden Größe, der alles umfassenden Herrschaft des frei gebietenden Herrn der Welt?

Den Sabbath hatte Gott ausersehen, um den ersten Schritt zu der wunderbaren Umwandlung des Niedrigsten, Gedrücktesten und Verachtesten zu dem hohen Priester der Menschheit, zu dem Verkünder des Gottesreichs auf Erden zu vollziehen. Der Sklave hatte das Selbstbefreiungswerk an sich selbst zuvor zu vollbringen, ehe Gott das Joch von seinem Nacken lösen wollte. Die Befreiung von fremder Knechtschaft sollte ausschließlich Gottes Tat sein, die Erhebung aus der eigenen hatte der Sklave selbst zu bewirken. Er hatte sie zu bewirken durch eine freie Tat, durch welche er die Ketten der Knechtschaft brach und sich in freier Entschließung in den Dienst des Königs der Könige, des Herrn und Meisters der Welt begab, um fortan für alle Zeiten in diesem zu verbleiben und nimmer wiederum eine andere Herrschaft über den Herrendienst seines Gottes anzuerkennen.

Am ersten des Monats Nissan erging der göttliche Befehl an „die ganze Gemeinde Israels“, dass ein jeglicher am Sabbath, dem Zehnten des Monats, das Opfer vorzubereiten habe, mit  welchem er sich am Abend des Vierzehnten, in jenem großen weltgeschichtlichen Augenblick, da Gottes Allmacht sichtbar in den menschengesellschaftlichen Kreis eingreifen wollte — die Tyrannengewalt zertrümmernd, den Verbrecher strafend, den Unterdrückten erlösend — als das sich seinem Schöpfer weihendes der Führung seines Hirten sich in unbedingtem Vertrauen hingehende Wesen darstellen wollte.

Dass in der Brust des Sklaven ein solcher den Menschen adelnde Entschluss zur Tat reifen konnte, dass der Knecht es wagen mochte, gegen die von seinem Herrn vergötterten Mächte Protest zu erheben und deren Hinfälligkeit zu verkünden, das war das staunenswerte, wunderbare Ereignis das der Erlösung Israels vorangehenden Sabbaths.

Noch lastete das schwere Joch der Knechtschaft auf seiner Schulter, noch trieb der Vögte hartes Drängen die Sklaven in die Zwangsarbeit, noch waren diese selbst das Eigentum ihrer Herren, rechtlos, machtlos, besitzlos. Wie lange war es her, dass der allgewaltige Pharao das Los dieser Sklaven noch schrecklicher gestattet hatte, um die durch die Sendung Moses etwa bewirkten Freiheitsgelüste im Keim zu ersticken? Und wie lange war es her, dass die um das Elend ihrer Mitbrüder besorgten Häupter der ibrischen Sklaven, welche der Tyrann zu deren Antreibern bestellt hatte, in ihrer Verzweiflung gegen Moses und Aharon den Vorwurf erhoben, dass sie es waren, welche durch ihr Auftreten Schuld an der verschärften Qual trügen? Und diese Sklaven erhoben sich an diesem Sabbath im Angesicht ihrer Herren mit dem durch eine Tat besiegelten Protest gegen die ägyptischen Gottheiten — das war das denkwürdige Wunder, welches dem Sabbath vor dem Pessach den Namen des großen alle Zeit verleiht.

Mit dieser Tat erhob sich Israel aus dem Staub und zeigte sich würdig, nicht nur der Befreiung, sondern auch der Erwählung zu der hohen Bestimmung, für welche allein jene erfolgen sollte.

בְּטֹהַר עֲדָיַי לָבוּשׁ הִתְכַּהֲנִי וְתתפָּארִי singt die Sabbath – Hagadol – Hymne: in lichten  Prachtgewand weihe priesterlich und schmücke Dich, —  — denn die Zeit ist gekommen, es nahet die Stunde, in welcher Du des Königs Anblicks gewürdigt wirst! Vier Tage lang hatte ein jeglicher in Israel sich in diesem Gedanke zu erheben und ihn immer fester sich einzuprägen! מִשְׁכוּ יְדֵיכֶם מֵאֱלִילִים, וּקְחוּ לָכֶם   צֹאן שֶׁל מִצְוָה [6]  Freimachung von dem Götterwahn — das von andern Vergötterte hat Israel Gott zu weihen. Der Gott dienende Mensch empfängt alles aus seines Herrn Hand: Dasein, Freiheit, Genuss, und weiht alles ihm Gewordene in allen seinen Beziehungen ganz seinem Gotte. Seinem Gott gehört jeder Blutstropfen, jede Herzensregung, jede Willensbetätigung, jedes Besitzteilchen, jeder Genuss; und er ist nichts als ein Glied der großen Gottesherde, von Gott geleitet und gehütet, Gott folgend, wohin seine Spur weist.

 Wohl war die konkrete Darstellung dieses [7]מִשְׁכוּ וּקְחוּ in dem [8]וְהָיָה לָכֶם לְמִשְׁמֶרֶת, in der viertägigen Bereitstellung des [9]זֶבַח פֶּסַח, nur für das erste  פֶּסַח[10]in  Mizrajim bestimmt. Das Bewusstsein davon lebt aber in Israels Geschlechtern und der „große Sabbath „weckt es stets aufs Neue.

Israels Gemeinde sollte deshalb von jeher an diesem [11] שַׁבָּת הַגָּדוֹל durch das lebendige Wort der Belehrung und Mahnung für das herrliche, große Pessachfest vorbereitet werden, auf dass sie für dasselbe befähigt sei, es in allen seinen Bestimmungen zur Ausführung und sich in seiner vollen segenspendende Bedeutung zur Beherzigung zu bringen. Noch heute herrscht diese Gepflogenheit; — sind aber Prediger und Gemeinde überall in deren Übung in dem alten und rechten Geiste? Die alten Redner ermahnten zur gewissenhaften Beobachtung der für die rechte Begehung des Passahfestes notwendigen Satzungen, und sie suchten die Kenntnis derselben alljährlich neu zu befestigen.

Gott verlangt die Tat. An jenem ersten „großen Sabbath“ war es nicht ein Wortbekenntnis, waren es nicht Gesänge und Choräle, durch welche Israel sich der Erlösung würdig machen sollte. Man ist keineswegs ein treuer Jude, wenn man Gott Hymnen, singt und prunkvolle Tempelfeiern veranstaltet. Das: [12]בַּעֲבוּר זֶה  עָשָׂה ה‘ לִי, welches die Haggada den in Frevelmut oder aus Unwissenheit den Gottesgesetzen den Gehorsam verweigernden antwortet, ist eine der wichtigsten Lehren des Judentums. Wir bekennen uns auch heute nur dann in Wahrheit zum Judentum, wenn wir seine Gesetze erfüllen. Diese grundlegende Wahrheit sollte von Rabbinern und Lehrern den Gemeinden immer aufs Neue vor die Seele geführt und durch das eigene Beispiel klar gemacht werden. Wenn diese Wahrheit durch ganz Israel verwirklicht wird, dann werden auch wir würdig erscheinen für die endliche גְּאֻלָּה[13]


[1] Den Schabbat vor dem Pessachfest nennt man Schabbat Hagadol (der große Schabbat), wegen des Wunders das an ihm passierte

[2] hebräischen

[3] ägyptischen

[4] Partner

[5] Partner des Schabbats

[6] Raschi zu Exodus 12:6; „zieht eure Hände von den Götzen weg, und nehmt euch Lämmer für das Gebot (Mech.)“ Übersetzung Rabbiner Dr. S. Bamberger s“l

[7] Zieht und nehmt (ein Lamm)

[8] Exodus 12:6; „Und es (das Lamm) bleibe euch in Verwahrung….“

[9] Pessachopfer

[10] Pessachfest

[11] „Großer Schabbat“

[12] Exodus 13:8; „Deinem Sohne sollst du an demselben Tage erzählen: [Wir feiern dieses Fest] um desswillen, was der Herr an uns getan, als wir aus Ägypten zogen.“ Übersetzung Dr. S. Bernfeld s“l. S.a. Pessach-Hagada: Antwort an den 4. Sohn

[13] Erlösung

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