Von Rabb. Dr. Joseph Breuer

Der Text ist zugegebenermaßen schwierig. Er setzt voraus, dass man sich mit dem Tischgebet und insbesondere mit der Bracha Me´en Schalosch gut auskennt. Wer jedoch im Thema ist, wird seine Freude an dem Artikel aus der Zeitschrift „Nachalat Zwi“, Jg.VII, Heft 10/11/12 Tamus Av Elul 5697/ Juli August September 1937 S.290ff geschrieben von einem Enkel von Rabbiner S. R. Hirsch s“l. Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek unter https://sammlungen.ub.uni-sranksurt.de/cm/periodical/pageview/2554244. Der Text wurde geringfügig dem heutigen Sprachgebrauch angepasst und mit Erklärungen versehen von Michael Bleiberg.

Ich habe der Übersichtlichkeit halber hier zunächst noch einmal die Bracha Me´en Schalosch mit der Übersetzung von Rabbiner Hirsch s“l und einer Einleitung von mir wiedergegeben.

Einleitung:

Die Thora verlangt von uns durch das Gebot: [1] וּבָרַכְתָּ אֶת ה‘ אֶלֹוקֶךָ nach dem Genuss von Lebensmittel uns bei unserem Gott für unsere Erhaltung zu bedanken. Unsere Weisen haben für uns die notwendigen Dankesworte in drei Segensprüche gekleidet. In der ersten Beracha danken wir Gott für dafür, dass er uns gespeist hat; in der zweiten, danken wir Gott für das Land, dass er uns gegeben aus dem die Nahrungsmittel hervorgegangen sind; und in der dritten für Jerusalem, dass symbolhaft für die „geistige Nahrung“ steht. Nach dem Bar-Kochba-Aufstand kam noch eine 4. Beracha dazu, in der הַמֶּלֶךְ הַטּוֹב וְהַמֵּטִיב לַכֹּל, der den „gütigen König, den allen wohltuenden Gott“ lobt. Weitere Lobsprüche wurden zu weiteren Zeiten hinzugefügt.   

Es wurde diskutiert, ob das dadurch recht lang gewordene Tischgebet nach jeglicher Speisenaufnahme der in der Thora erwähnten Früchte, Weizen, Gerste, Trauben, Feigen, Oliven, Granatapfel, Datteln zu sprechen wäre, oder nur nach dem Brotgenuss, durch den man hauptsächlich eine Sättigung erfährt (zumindest in der damaligen Zeit, als es noch keine Kartoffeln, Reis oder Nudeln gab). Die Nahrungsmittel wurden in 5 Gruppen eingeteilt. Brot, sonstige Mehlspeisen (Nudeln, Kuchen usw.), Früchte (die in der Thora erwähnt werden), Wein, und sonstige Lebensmittel. Es wurde entschieden, dass nur nach dem Genuss von Brot das lange Tischgebet gesprochen werden soll. Nach dem Genuss von sonstigen Mehlspeisen, Früchten und Wein, wurde eine Lobsagung formuliert, die die 3 ersten Brachot des Tischgebetes in einer Beracha zusammenfügt. Man nennt diese Beracha daher בְּרָכָה אַחַת מֵעֵין שָׁלֹשׁ, eine den drei Berachot entsprechende Beracha.

בָּרוּךְ אַתָּה ה‘ אֱלֹקינוּ מֶלֶךְ הָעוֹלָם, עַלGesegnet seist Du, Gott, unser Gott, König der Welt, für
אם אכל מזונות יאמר: הַמִּחְיָה וְעַל הַכַּלְכָּלָה:nach Mehlspeisen:  die Erhaltung und Ernährung
אם שתה יין יאמר: הַגֶּפֶן וְעַל פְּרִי הַגֶּפֶן:nach Wein: den Weinstock und die Frucht des Weinstocks
אם אכל פירות משבעת מינים יאמר: הָעֵץ וְעַל פְּרִי הָעֵץ:Nach den Früchten: den Baum und die Frucht des Baumes
וְעַל תְּנוּבַת הַשָּׂדֶה וְעַל אֶרֶץ חֶמְדָּה טוֹבָה וּרְחָבָה שֶׁרָצִיתָ וְהִנְחַלְתָּ לַאֲבוֹתֵינוּ לֶאֱכוֹל מִפִּרְיָהּ וְלִשְׂבּוֹעַ מִטּוּבָהּ. רַחֵם (נָא) ה‘ אֱלֹקינוּ עַל יִשְׂרָאֵל עַמֶּךָ וְעַל יְרוּשָׁלַיִם עִירֶךָ וְעַל צִיּוֹן מִשְׁכַּן כְּבוֹדֶךָ, וְעַל מִזְבְּחֶךָ, וְעַל הֵיכָלֶךָ. וּבְנֵה יְרוּשָׁלַיִם עִיר הַקּדֶשׁ בִּמְהֵרָה בְיָמֵינוּ. וְהַעֲלֵנוּ לְתוֹכָהּ וְשַׂמְּחֵנוּ בְּבִנְיָנָהּ, וְנֹאכַל מִפִּרְיָּהּ וְנִשְׂבַּע מִטּוּבָהּ וּנְבָרֶכְךָ עָלֶיהָ בִּקְדֻשָּׁה וּבְטָהֳרָה  Für die Fruchtspende des Feldes und für das herrliche, gute und geräumige Land, das Du in Deinem Wohlwollen unseren Vätern zum Erbe gegeben, von seiner Frucht zu essen und sich an seinem Guten zu sättigen. Erbarme Dich Gott, über Dein Volk Israel, über Jeruschalajim, Deine Stadt und über Zion die Stätte Deiner Herrlichkeit, über Deinen Altar und über Deinen Tempel und erbaue Jeruschalajim, die Stadt Deines Heiligtums bald in unseren Tagen, führe uns zu ihr hinauf und erfreue uns mit ihrem Bau. Lasse uns von seiner Frucht essen und uns mit seinem Gut sättigen, dass wir Dich darob in Heiligkeit und Reinheit segnen.
בשבת: וּרְצֵה וְהַחֲלִיצֵנוּ בְּיוֹם הַשַּׁבָּת הַזֶּה:am Schabbat: Wolle und Rüste uns an diesem Schabbattag
בראש חודש: וְזָכְרֵנוּ לְטוֹבָה בְּיוֹם רֹאשׁ חֹדֶשׁ הַזֶּה:am Rosch Chodesch: Gedenke unser zum Guten an diesem Neumond
בראש השנה: וְזָכְרֵנוּ לְטוֹבָה בְּיוֹם הַזִּכָּרוֹן הַזֶּה:am Rosch Haschna: Gedenke unser zum Guten an diesem Tag des Gedächtnisses
ביום טוב:  וְשֹמְּחֵנוּ בְּיוֹם (פלוני) הַזֶּה:am Jom Tov: erfreue uns am Tag dieses (…) Festes
כִּי אַתָּה טוֹב וּמֵטִיב לַכֹּל וְנוֹדֶה לְךָ ה‘ אֱלֹקינוּ עַל הָאָרֶץ  Denn Du Gott bist gut und tust allen Gutes. Wir danken Dir für das Land und für
על מזונות: וְעַל הַמִּחְיָה: בָּרוּךְ אַתָּה ה‘, עַל הָאָרֶץ וְעַל הַמִּחְיָה:  Nach Mehlspeisen: die Erhaltung. Gesegnet seist Du Gott für das Land und für die Erhaltung
על יין: וְעַל פְּרִי הַגֶּפֶן: בָּרוּךְ אַתָּה ה‘, עַל הָאָרֶץ וְעַל פְּרִי הַגֶּפֶן:  nach Wein: die Frucht des Weinstocks. Gesegnet seist Du Gott für das Land und für die Frucht des Weinstocks.
על שבעת המינים: וְעַל הַפֵּרוֹת: בָּרוּךְ אַתָּה ה‘, עַל הָאָרֶץ וְעַל הַפֵּרוֹת:  nach den Früchten: die Früchte. Gesegnet seist Du Gott für das Land und die Früchte.

Hier beginnt der Artikel von Rabbiner Dr. Joseph Breuer:

אֶעְבְּרָה־נָּ֗א וְאֶרְאֶה֙ אֶת־הָאָ֣רֶץ הַטּוֹבָ֔ה אֲשֶׁ֖ר בְּעֵ֣בֶר הַיַּרְדֵּ֑ן הָהָ֥ר הַטּ֛וֹב הַזֶּ֖ה וְהַלְּבָנֽוֹן  [2] „Ich möchte doch hinüber und sehen das gute Land jenseits des Jardens, diesen guten Berg und den Libanon“ – so sehnt sich Mosche Rabbenu in heißem Verlangen nach dem Land der Verheißung, für das sein Volk zu erziehen seine ganze Lebensarbeit galt. Von Mosche haben die heiligen Führer unseres Volkes gelernt, die ihrer Sehnsucht nach Erez-Jissroel und ihrer Liebe zur Heimat ergreifenden Ausdruck geliehen (s. Ende Ketubot); sie ist in dem Herzen des jüdischen Volkes nie erloschen, sie wird so lange leben, so lange jüdisches Volk sich als Gottes Volk begreift.

Die Weisen aber haben diese Sehnsucht Mosches näher interpretiert. Sie lehren (Sota 14a): מִפְּנֵי מָה נִתְאַוָּה מֹשֶׁה רַבֵּינוּ לִיכָּנֵס לְאֶרֶץ יִשְׂרָאֵל? וְכִי לֶאֱכוֹל מִפִּרְיָהּ הוּא צָרִיךְ?! אֶלָּא כָּךְ אָמַר מֹשֶׁה: הַרְבֵּה מִצְוֹת נִצְטַוּוּ יִשְׂרָאֵל, וְאֵין מִתְקַיְּימִין אֶלָּא בְּאֶרֶץ יִשְׂרָאֵל. אֶכָּנֵס אֲנִי לָאָרֶץ כְּדֵי שֶׁיִּתְקַיְּימוּ כּוּלָּן עַל יָדִי. „Weshalb war Mosche von Sehnsucht nach Erez-Jissroel erfüllt? Verlangte es ihn nach dem Genuss der Früchte des Landes, sich an seinem Guten zu sättigen? Er sagte sich vielmehr, gar viele Pflichten sind Israel gegeben, die nur im Lande erfüllt werden können; nach deren Erfüllung sehnte er sich.“

[3]לֶאֱכֹל מִפִּרְיָהּ וְלִשְׂבֹּעַ מִטּוּבָהּ Diese Worte sind uns geläufig, kehren sie doch in unterer sog. „großen Nach-Beracha[4]zweimal wieder. Wir segnen Gott für das „herrliche, gute und geräumige Land, das Gott unseren Vätern zum Erbe gegeben, von seiner Frucht zu essen und an seinem Guten sich zu sättigen“ und erflehen die Heimkehr um [5]וְנֹאכַל מִפִּרְיָּהּ וְנִשְׂבַּע מִטּוּבָהּ. Die talmudische Quelle (Berachoth 44a) bringt diese Worte wohl am Anfang nicht jedoch am Schluss unserer Beracha, [6]רמב״ם lässt sie überhaupt weg, auch בשם ס׳ המצות) [7]טור) meint, im Sinne der erwähnten Stelle in Sota[8], dass man sie nicht sage, denn „unsere Sehnsucht nach dem Lande gelte nicht den Früchten, sondern den dort zu erfüllenden Mizwoth“, während  [9]רי“ף die Beracha in der Fassung bringt, wie sie von uns gesagt wird. — Wir glauben, dass unsere Fassung ihre volle Berechtigung hat und in keiner Weise mit der Talmudstelle in Sota in Widerspruch steht, weder in ihrem ersten Teilוְהִנְחַלְתָּ וכו‘  und erst recht nicht in ihrem Schlussוְנֹאכַל מִפִּרְיָהּ וכו‘ , glauben vielmehr, dass diese Beracha gerade in dieser Fassung uns in unseren Tagen gar viel zu sagen hat und ein Bekenntnis von uns fordert, dass, wenn es kein Lippenwort bleibt, jener echten Erez-Jissroel-Sehnsucht im Geiste Mosche Rabbenus Ausdruck verleiht, deren Pflege die Voraussetzung für unsere endliche Geula bildet.

Bei der Frage [10]וְכִי לֶאֱכֹל מִפִּרְיָהּ אוֹ לִשְׂבֹּעַ מִטּוּבָהּ הוּא צָרִיךְ liegt, wie wir glauben, der Nachdruck in den Worten הוּא צָרִיךְ: brauchte er denn den Genuss der Früchte, in deren Genuss er sich erst bewähren musste? Seinem Volke freilich hielt noch der Prophet Jeremia (Kap. 2) entgegen וָאָבִיא אֶתְכֶם אֶל אֶרֶץ הַכַּרְמֶל לֶאֱכֹל פִּרְיָהּ וְטוּבָהּ „Ich brachte euch in ein fruchtbares Land, seine Frucht und seine Güte zu genießen“— denn im Genuss der irdischen Fülle sollte sich jüdisches Volk als Gottesvolk bewähren, dem aller irdischer Besitz von Gottes Hand gereicht wird, um ihn in einem Gott dienenden Leben zu verwerten, im Geiste jener großen Forderung (Deut. 8)[11] וְאָכַלְתָּ וְשָׂבַעְתָּ וּבָרַכְתָּ, die von ihm erwartet, mit der „Brotsättigung“ den Hunger nach [12]בְּרָכָה zu verbinden, keine Brotsättigung zu kennen, ohne von der Sehnsucht erfüllt zu sein, diese von Gott gewährten irdischen Güter aufzugreifen, um sie in den Dienst eines Gott segnenden, Gottes Willen fördernden Lebens zu stellen. In dem „Genuss der Früchte“ und „der Sättigung am Guten“ sollte sich das jüdische Volk bewähren. Bedurfte aber, fragen die Weisen mit Recht, Mosche Rabenau dieser Bewährung? Und wenn dennoch seine Sehnsucht nach א“י [13] ging, so galt seine Sehnsucht der Erfüllung der Mizwoth, die nur dort erfüllt werden konnten. — Unseren Vätern hatte Gott, so sprechen wir in unserer Nach-Beracha, א“י zum Besitz gegeben אֱכֹל מִפִּרְיָהּ וְלִשְׂבֹּעַ מִטּוּבָהּ, und ersehnen wir am Schluss den Wiederbesitz unseres Landes, so erfüllt uns das Verlangen וְנֹאכַל מִפִּרְיָּהּ וְנִשְׂבַּע מִטּוּבָהּ, um aber damit das Gelöbnis zu verbinden וּנְבָרֶכְךָ עָלֶיהָ [14]בִּקְדֻשָּׁה וּבְטַהֲרָה: seine Güterfülle aufzugreifen, um Gott mit einem Leben der Heiligkeit und Reinheit zu segnen. Hat schon nach dem Gesagten unsere בְּרָכָה-Fassung ihre volle Berechtigung, so gewinnt sie noch erhöhte Bedeutung, wenn wir sie uns in ihrem Wortlaut näher vergegenwärtigen:

 רַחֵם ה׳ אֱלֹקֵינוּ עַל יִשְׂרָאֵל עַמֶּךָ וְעַל יְרוּשָׁלַיִם עִירֶךָ וְעַל צִיּוֹן מִשְׁכַּן כְּבוֹדֶךָ וְעַל מִזְבְּחֶךָ וְעַל הֵיכָלְךָ וּבֹנֶה יְרוּשָׁלַיִם עִיר הַקֹּדֶשׁ בִּמְהֵרָה בְּיַמֵּנוּ וְהַעֲלֵנוּ לְתוֹכָהּ וְשַׂמְּחֵנוּ בְּבִנְיָנָהּ וְנֹאכַל מִפִּרְיָהּ וְנִשְׂבּוֹעַ מִטּוּבָהּ וּנְבָרֶכְךָ עָלֶיהָ בִּקְדֻשָּׁה וּבְטַהֲרָה

„Erbarme dich, Gott unser Gott, über dein Volk Israel, über Jeruschalaim deine Stadt, und über Zion, die Stätte deiner Heiligkeit, über deinen Altar und über deinen Tempel, und erbaue Jeruschalaim, die Heilige Stadt, bald in unseren Tagen, und führe uns zu ihr hinaus und erfreue uns, an ihrem Bau, wir möchten von ihrer Frucht essen und an ihrem Guten sättigen und wollen dich darob segnen in Heiligkeit und Reinheit“.

Erbaue Jeruschalaim, die Heilige Stadt, und führe uns zu ihr hinauf:וְנֹאכַל מִפִּרְיָּהּ וכו‘ bezieht sich auf Jeruschalaim die Heilige Stadt, nach deren Fruchtreichtum und Guten unsere Sehnsucht geht. Dann aber ist es eine Sehnsucht, von deren Wahrhaftigkeit unsere Erlösung und Heimkehr bedingt ist. Denn es ist nicht die Sehnsucht nach irdischer Güterfülle, die uns א“י teuer macht, vielmehr die Sehnsucht nach jenen Lebenswerten, die allein in Jeruschalaim, „aus Zions“ Höhe unser harren. Eine Sehnsucht, der Jeremia (Kap. 31) ergreifenden Ausdruck geliehen: sein prophetisches Auge erlebt die Auferstehung der verschollenen zehn Stämme, der „Trunkenen Ephraims“ wie sie Jesaja (K. 28 ) in erschütterndem Schmerze gekennzeichnet, die einst „überwältigt vom Weine“, geknechtet von Güterfülle, alles adelnden göttlichen Schmuckes jämmerlich beraubt, dem von Gott gesandten Zeitensturm zum Opfer fielen — nun kehren sie heim, „unter Tränen kehren sie heim, unter Flehen bringe ich sie heim, führe sie an Wasserbächen entlang, auf geradem Wege, aus dem sie nicht mehr straucheln, denn wieder bin ich Israel zum Vater geworden und Ephraim ist mein Erstgeborener״ (Jer. das.) „Und sie kehren heim – und sie jubeln aus Zions Höhe וְנִהֲרוּ אַל טוֹב ה׳ und strömen hin zum Guten Gottes, über Getreide, Most und Öl, über Schafe und Rinderfülle hinweg (die sie nicht zu fesseln vermögen) –  וְעַמִּי אֶת טוּבִי יִשְׂבָּעוּ mein Volk, an meinem Guten sättigen sie sich“: nach diesem Guten lässt unsere Beracha uns sehnen, wenn sie uns sprechen lehrt, „erbaue Jeruschalaim, die Heilige Stadt, und führe uns hinaus zu ihr, wir möchten von ihrer Frucht essen und uns an ihrem Guten sättigen“.

Wir glauben aber noch einen Schritt weiter gehen zu dürfen. Unsere Beracha erfleht Erbarmen für Israel, Jeruschalaim, Zion, Gottes Altar, Gottes Heiligtum, um dann zusammenfassend die Bitte zu sprechen:  וּבְנֵה יְרוּשָׁלַיִם עִיר הַקֹּדֶשׁ בִּמְהֵרָה בְּיָמֵינוּ וכו׳ „erbaue Jeruschalaim, die Heilige Stadt, bald in unteren Tagen, und führe uns zu ihr hinaus und erfreue uns an ihrem Bau —“. Warum wird Erez-Jissroel scheinbar mit keinem Worte gedacht, nicht um Erbarmen für א״י gefleht und sein Ausbau ersehnt?

Wir glauben es zu verstehen. Mosche Rabbenu ersehnt א“י: וְאֶרְאֶה אֶת הָאָרֶץ הַטּוֹבָה אֲשֶׁר בְּעֵבֶר הַיַּרְדֵּן הָהָר הַטּוֹב הַזֶּה וְהַלְּבָנוֹן „Ich möchte das gute Land jenseits des Jordans sehen, diesen guten Berg und den Libanon“. Man sollte meinen, dass mit diesen Worten sein Auge das „gute Land״ ersehnt, das sich von Moria bis zur nördlichsten Grenze, dem Libanon, erstreckt. Doch die Weisen (ברכות מח: וספרי) kommentieren:

הָהָר הַטּוֹב זֶה יְרוּשָׁלַיִם, וְהַלְּבָנוֹן אֵין לְבָנוֹן אֶלָּא ביה״מק וְלָמָּה נִקְרָא שְׁמוֹ לְבָנוֹן שֶׁמַּלְבִּין עֲוֹנוֹתֵיהֶם שֶׁל יִשְׂרָאֵל

der gute Berg, das ist Jeruschalaim; der Libanon, das ist das Heiligtum, das לְבָנוֹן (weiß) heißt, weil es die Sünden Israels schneeig läutert. –

Und die Weisen lehren (ברכות das.):   מֹשֶׁה תִּקֵּן בְּרַכַּת הַזָּן בְּשָׁעָה שֶׁיָּרַד לָהֶם הַמָּן Mosche gab uns die erste Beracha unteres „Tischgebets“, als dem jüdischen Volke zum ersten Male das himmlische Manna beschieden ward — o, möchte es ein Volk bleiben, das für alle Folge sein „Brot“ als Gottes Manna, aus Gottes Hand zu empfangen gewillt wäre! – יְהוֹשֻׁעַ תִּקֵּן בִּרְכַּת הָאָרֶץ כֵּיוָן שֶׁנִּכְנְסוּ לָאָרֶץ Jehoschua gab uns die zweite Beracha, als unser Volk sein Land betrat: o, dass jüdisches Volk für immer sein Land im Geiste dieser Beracha begriffen hätte, nie sein Land hätte denken können ohne בְּרִית und תּוֹרָה, für deren Verwirklichung allein es Land aus Gottes Hand empfangen hatte! – דָּוִד וּשְׁלֹמֹה תִּקְּנוּ בּוֹנֵה יְרוּשָׁלַיִם, דָּוִד תִּקֵּן עַל יִשְׂרָאֵל עַמֶּךָ וְעַל יְרוּשָׁלַיִם עִירֶךָ, שְׁלֹמֹה תִּקֵּן עַל הַבַּיִת הַגָּדוֹל וְהַקָּדֹשׁ König David und Schelomo reichten uns die dritte Beracha, die wohl in ihrer jetzigen Fassung Galultcharakter hat, aber als Gebet von den Erbauern Zions und Jeruschalaims gesprochen und ihrem Volke gegeben wurde, weil sie von dem tiefen Bewusstsein erfüllt waren, das jüdisches Volk nur so lange als Volk unter Völkern, als Staat unter Staaten im Besitz seines Landes bleiben werde, solange Zion und Jeruschalaim ihre gottgewollte Bestimmung im Leben des jüdischen Volkes finden, ohne deren „Erbauung“ es seine Lebensberechtigung einbüßt.

Wann aber ist Zion-Jeruschalaim wieder erbaut? Wenn der in Zion niedergelegte Gotteswille der Thora das Leben Jeruschalaims in allen seinen Erscheinungen weihend und heiligend erfasst, und in diesem Sinne Jeruschalaim, als das von Zion beherrschte Leben ganz Erez-Jissrael in sich schließt und aus seinem  „heiligen Berg, an dieser „Stätte des Gottesrechts“„Juda und alle seine Städte vereint wohnen, auch die Landleute, die hinter der Herde ziehen“(Jer. 31) — in einem solchen Erez-Jissrael, das als Gottes Land noch in seinen fernsten Erhebungen den Zionssegen empfängt, findet Jeruschalaim seine endliche Vollendung als „heilige Stadt“, und wird Erez-Jissrael אֶרֶץ הַטּוֹבָה jenes  „gute“ Land, das Mosche Rabbenu sich und seinem Volke ersehnte. – So auch die Weisen (ברכות das.): בִּרְכַּת הַמָּזוֹן מִן הַתּוֹרָה, וְאָכַלְתָּ וְשָׂבַעְתָּ וּבֵרַכְתָּ זוֹ בִּרְכַּת הַזָּן, עַל הָאָרֶץ זוֹ בִּרְכַּת הָאָרֶץ, הַטּוֹבָה זוֹ בִּנְיַן יְרוּשָׁלַיִם, sie finden die drei בְּרָכוֹת unteres Tischgebets in dem Verse וְאָכַלְתָּ וכו‘ niedergelegt: den Segen עַל הָאָרֶץ spricht die zweite Beracha, עַל הָאָרֶץ הַטּוֹבָה erfleht die Erbauung Jeruschalaims, denn nur wenn Jeruschalaim  „erbaut“ ist, ist Erez-Jissroel das „gute“ Land. — Und sie lehren ferner ( das.): Auf die Frage, wo die Pflicht zur Nach-Beracha auf die תּוֹרָה gefordert wird, meint ein Weiser: אֵינוֹ צָרִיךְ הֲרֵי הוּא אוֹמֵר עַל הָאָרֶץ הַטֹּבָה אֲשֶׁר נָתַן לָךְ וּלְהַלָּן הוּא אוֹמֵר וְאֶתְּנָה לְךָ אֶת לֻחֹת הָאֶבֶן וְהַתּוֹרָה וְהַמָּצוֹר ,,diese Plicht sei auch in diesem Verse mit den Worten: segne Gott für das Land, „das er dir gegeben“ ausgesprochen, denn auch die Thora hat Gott seinem Volke „gegeben“- Land aus Gottes Hand empfangen und dafür Gott segnen, heißt nichts anderes als Gott für die לוּחוֹת danken, in die Gott seine תּוֹרָה gegeben, Erez-Jissroel selber von Gott gereichte לוּחוֹת irdischer Lebensgestaltung, die ihre heiligende Weihe durch Gottes Thora zu empfangen hat! – Ein anderer Weise meint jedoch: אֵינוֹ צָרִיךְ הָ׳הּ אוֹמֵר טוֹבָה הַטּוֹבָה טוֹבָה זוֹ תּוֹרָה ( וְכֵן הוּא אוֹמֵר כִּי לֶקַח טוֹב נָתַתִּי לָכֶם ) הַטּוֹבָה זוֹ בִּנְיַן יְרוּשָׁלַיִם ( וְכֵן הוּא אוֹמֵר הָהָר הַטּוֹב הַזֶּה ) die Nach-Beracha aus תּוֹרָה sei schon in den Worten: segne Gott für das „gute Land“- denn nur wenn die Thora in diesem Lande lebt, nur wenn Jeruschalaim erbaut ist, ist Erez-Jissroel das „gute Land“!

Ein solches Erez-Jissroel ersehnte Mosche Rabbenu, weil für ihn ein anderes א“י nicht denkbar war. Wenn daher seine heiße Bitte dahin ging: וְאֶרְאֶה אֶת הָאָרֶץ הַטּוֹבָה, הָהָר הַטּוֹב הַזֶּה וְהַלְּבָנוֹן ich möchte das „gute Land“ sehen, so stand ihm, nach den tiefen Worten der Weisen, bei den Worten הָהָר הַטּוֹב הַזֶּה וְהַלְּבָנוֹן ein Land vor Augen, das von der beherrschenden Geltung Zions und Jeruschalaims seine Heiligung empfängt, הָהָר הַטּוֹב זוֹ יְרוּשָׁלַיִם in dem der heilige Zionsberg als Jeruschalaim sich erhebt, וְהַלְּבָנוֹן זוֹ בהמ״ק[15] und die läuternde, sühnende Kraft des בהמ״ק noch die schneeigen Gipfel des Libanon erfasst!

Einem solchen Erez-Jissroel gilt auch unsere Sehnsucht. Ihr gibt unserer Nach-Beracha ergreifenden Ausdruck: רַחֵם ה׳ אֱלֹקֵינוּ עַל יִשְׂרָאֵל וְכוּ׳ erbarme dich, o Gott, Israels, Jeruschalaims, Zions, deines Heiligtums – soll aber Israel, Jeruschalaim, Zion eine Wahrheit sein, dann וּבֹנֶה יְרוּשָׁלַיִם וכו‘ muss Jeruschalaim als „heilige Stadt“ erbaut dastehen, die ganz Erez-Jissroel mit allem seinem Reichtum an irdischen Werten Zion und den dort niedergelegten göttlichen Lebensforderungen huldigend zu Füßen legt. Die Heimkehr nach einem solchen Erez-Jissroel ist dann in Wahrheit eine Heimkehr nach Jeruschalaim וְהַעֲלֵנוּ לְתוֹכָהּ וְשַׂמְּחֵנוּ בְּבִנְיָנָהּ, denn mit jedem Genuss irdischer Segensspende, die Erez-Jissroel uns gewährt, segnen wir dankerfüllt Gott für die köstlichen Güter, mit denen Zion-Jeruschalaim unser Leben heiligend und weihend zu Gottes Nähe erhebt. – Damit aber findet auch die Frage des מָרְדְּכַי, weshalb in unserer Beracha בְּרִית und תּוֹרָה nicht erwähnt wird, da doch (ברכות מחי) כָּל שֶׁלֹּא הִזְכִּיר בְּרִית וְתוֹרָה לֹא יָצָא ihre Beantwortung: gerade בְּרִית und תּוֹרָה haben unserer Beracha unvergleichliches Gepräge gegeben, denn sie ersehnt ein Erez-Jissroel, in dem der Gottesbund der Thora seine endliche Erfüllung gefunden hat.


[1] Deuteronomium 8:10

[2] Deuteronomium 3:25

[3] Me´ein Schalosch: … dessen Frucht zu essen und an dessen Güte sich zu sättigen

[4] Nach dem Genuss von Wein, Kuchen und bestimmten Früchten

[5] von dortigen Früchten zu essen und sich an dortiger Güte zu sättigen

[6] Wikipedia: Rambam (Mosche ben Maimon) geboren zwischen 1135 und 1138 in Córdoba; gestorben am 13. Dezember 1204 in Kairo war ein jüdischer Philosoph, Rechtsgelehrter, Theologe und Arzt, der vor allem in al-Andalus und Ägypten wirkte. Für Jahrzehnte war er das geistige Haupt der Sephardim. Er gilt als bedeutender Gelehrter des Mittelalters.

[7] Wikipedia: Jakob ben Ascher (hebräisch ר‘ יעקב בן אשר; geboren 1283 in Köln; gestorben am 1340 in Toledo) war eine halachische Autorität des Mittelalters. Nach seinem Hauptwerk Arba’a Turim hebräisch „ארבעה הטורים“ wird er meistens Ba’al ha-Turim (hebräisch „בעל הטורים“, „Meister der Reihen“, kurz Tur) genannt.

[8] Sota/סוטה ist ein Traktat der Mischna in der Ordnung Naschim סֵדֶר נָשִׁים (Frauen).

[9] Wikipedia: Isaak ben Jakob Alfasi, auch Rif genannt (* 1013 in Al Qal’a bei Constantine in Algerien; gestorben am 1103 in Lucena, Spanien), war ein nordafrikanischer jüdischer Gelehrter des Mittelalters. Er gilt als wichtigste halachische Autorität vor Maimonides und ist der Verfasser zahlreicher Responsen.

[10] brauchte er (Mosche) etwa von den Früchten (des Landes) zu essen, oder etwa sich an dem Guten (des Landes) zu sättigen?

[11] Du sollst essen und satt werden und (deinen Gott dafür) loben

[12] Segnung

[13] Abkürzung für אֶרֶץ יִשְׂרָאֵל

[14] Und dich (Gott) loben für sie (die Früchte) in Heiligkeit und Reinheit

[15] בהמ״ק Abk. für Bet Hamikdasch; Tempel

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