Einleitung zu Rabbiner Hirschs Kalenderblatt für den Monat Aw

Von Michael Bleiberg

Der von mir ausgewählte Artikel von Rabbiner Hirsch zum Monat Aw ist schwierig zu lesen. In der Transkription des Textes mit gotischen Buchstaben zum Text mit lateinischen Buchstaben habe ich bereits versucht für einige Erleichterungen beim Lesen des Textes zu sorgen. Das wird jedoch manchen nicht ausreichen.  Deshalb möchte ich hier zum besseren Verständnis des Textes eine kleine Inhaltsangabe vorausschicken.

Thema des Textes ist der 9. Aw, obwohl Rabbiner Hirsch inhaltlich nur kurz am Anfang und am Ende seines Artikels darauf eingeht. Wichtiger ist ihm der Versuch der Erklärung, wie es zum Verhängnis des 9. Aws kommen konnte.

Zur Erklärung wendet er hierfür einen halachischen Midrasch genannt Sifre zum Tora-Abschnitt Bechokotai im 3. Buch Moses – Vajikra an. In diesem Toraabschnitt wird dem jüdischen Volk prophezeit was geschehen wird, wenn es den Weg des göttlichen Gesetzes verlässt. Der Autor des Sifre, beschreibt 7 Phasen, wie das Volk sich schrittweise vom Pfad der Tora entfernt – bis hin zur Gottesleugnung.

Im besagten Wochenabschnitt (3. Buch Moses, Kapitel 26, Vers 14,15) heißt es wie folgt (Übersetzung Rabbiner Hirsch):

„Wenn ihr aber mich nicht hören werdet und werdet nicht ausführen alle diese Gebote; und wenn ihr meine Gesetze verachten werdet und wenn eure Seele meine Rechtsordnungen verwerfen wird, damit alle meine Gebote nicht ausgeführt werden, so dass ihr meinen Bund aufhebet —“, dann …………….

Der Sifre sieht hier die Phasen zur Gottesleugnung wie folgt vereinfacht dargelegt:

  1. Wer die Gesetze der Tora nicht lernt,
  2. wird sie auch nicht üben (praktizieren).
  3. Wer demnach das Gesetz nicht lernt und nicht übt, wird endlich auch andere, die es üben, verachten.
  4. Wer demnach das Gesetz weder lernt noch übt, und diejenigen, die es üben, verachtet, wird dann auch die Weisen hassen, die es lehren.
  5. Wer demnach das Gesetz weder lernt noch übt, andere, die es üben, verachtet, und die Weisen, die es lehren, hasst, wird endlich auch stören, dass andere das Gesetz erfüllen.
  6. Wer demnach das Gesetz weder lernt noch übt, sowohl die Übenden verachtet als die Lehrenden hasst, und die Erfüllung des Gesetzes stört, wird endlich die ganze Gesetzoffenbarung am Sinai leugnen.
  7. Nun könnte einer in alle diese Verirrungen sinken, aber noch das Dasein Gottes nicht leugnen, darum heißt es schließlich: „so dass ihr den Bund mit mir zerreißet. Wer demnach in alle diese Verirrungen verfallen, wird zuletzt auch das ganze Dasein Gottes leugnen!“

Unter Beachtung des Sifre fasst Rabbiner Hirsch den Toratext wie folgt zusammen:

Gottes Gesetz nicht mehr lernen — es nicht mehr üben — Verachtung der nach dem Gesetze Lebenden — Hass der Gesetzlehrer — Störung der Gesetzerfüllung durch andere — Leugnung der Gesetz-Offenbarung – Gottes-Leugnung

Dies vorausgeschickt beschreibt Rabbiner Hirsch jetzt 7 Beispiele, wie der Jude, der mit dem Lernen aufgehört hat, dem Abfall vom Judentum zwingend ausgeliefert ist.

Des Wurzels Übel sieht Rabbiner Hirsch im Innehalten des Lernprozesses der heiligen Schriften und deren Inhalte. Wer nicht lernt, ist auch nicht in der Lage das Gelernte in die Praxis umzusetzen und versteht auch nicht, was andere da tun, die etwas gelernt haben, um es zu praktizieren. (Das ist aber der Inhalt des Judentums.) Das führt zur Verachtung dieses Personenkreises durch Nichtwissen. Da die Gesetzestreuen sich ihr Handeln trotz schöner Worte und aller Überredungskünste nicht verbieten lassen, werden sie ihrer Praktiken wegen verachtet. Ihre Lehrer, die Ihnen all dies „unnütze“, „dumme Zeug“ weiter lehren, werden von nun an gehasst. Da auch das keine Früchte trägt, wird versucht, die an den „alten Praktiken“ und „Lehren“ Festhaltenden, durch Denunziation und Verleumdung an der Ausübung ihres Judentums zu hindern. Interessanterweise ist es dazu notwendig, sich doch wieder mit den alten, überkommenen Schriften zu befassen, mit der Aufgabe jedoch diese zu verunglimpfen. „Einen solchen Versuch kann man nur zu machen wagen, indem man „die Worte des lebendigen Gottes verdreht“, indem man die Lehren der Weisen entstellt, indem man einzelne Aussprüche und Spruchteile aus dem Zusammenhange reißt und sie das Beliebige sagen lässt, indem man vor allem die alte Ausdrucksweise stehen lässt, sie aber ihres eigentlichen Inhaltes beraubt und die neue Lüge mit der Hülle der alten Wahrheit umkleidet“. Letztendlich steuert alles zu der eigentlichen Frage hin: „Ist die Thora מן השמים, Gottes Offenbarung, sind die Mizwoth מסיני, Gottes Gesetz, so lassen sich Thora und Mizwoth nicht antiquieren, so gehören sie nicht der Vergangenheit an; jede lebendige Gegenwart und die volle, ganze Zukunft ist ihrer, sie sind die Sieger der Zeiten und nicht von der Zeit zu besiegen.“ „Der Jude aber, der vom sinaitischen Gesetz abgefallene Jude, der die bisher gezeichneten Stadien des Abfalls zurücklegt und zuletzt, um sich der lästigen Bürde des Gesetzes zu entledigen, die ganze Existenz eines geoffenbarten Gesetzes leugnet, der wird an der Hand derselben Sophismen endlich zur Leugnung der Existenz Gottes gelangen.“

So endet Rabbiner Hirsch seinen Artikel mit der Überlegung: „Ist Gott, ist Gott Gott, der freie Schöpfer und Bildner, Gesetzgeber und Ordner der Welt, der freie Walter und Lenker, Richter und Erzieher in der Geschichte, ist’s sein Wille, der in dem Werk der Schöpfung verwirklicht dasteht und der in der freien Tat des Menschen zur Verwirklichung kommen will? – Wer will seiner Macht und seinem Willen Ziel und Grenze setzen, wer das Faktum der Offenbarung seines Willens als etwas Unmögliches leugnen, wer sprechen: Gott hat am Sinai seinen Willen nicht ausgesprochen, weil er zu dem Menschen nicht anders sprechen kann, ….. als durch das Medium seiner Werke und seines Wirkens,  – und „Gott sprach zu Moscheh“, „Gott sprach zu eurem ganzen Volke, Worte hörtet ihr, Gestalt sahet ihr keine“ — ist darum nur Mär‘ und Fabel! — Ist Gott, ist Gott Gott, wer will es wagen, sein ganzes Leben in Widerspruch mit einem Gesetz zu setzen, solange er noch mindestens sich die Möglichkeit eingestehen muss, dass es von Gott sein könnte!

Mit dieser Einleitung hoffe ich genug Interesse geweckt zu haben sich dieses Kalenderblatt zum Monat Aw einmal genauer zu betrachten.

Berlin im Tamus 5781                          Zum Kalenderblatt Aw

p.s.: Im Kalenderblatt Aw, den ihr hoffentlich gleich lesen werdet, werden 4 zeitgeschichtliche Ereignisse von Rabbiner Hirsch angesprochen: 1.) Ein Zeitungsartikel, indem die „treue Hingabe an das Gesetz“ mit hundsgehorsam bezeichnet wird. 2.) Lehrer und Schüler des Gesetzes auf Anstiftung jüdischer Vorstände mit Polizeigewalt auseinandergetrieben wurden. 3) Wohltätigkeitsvereine die Not der armen Jugend zur Verführung derselben von Sabbathfeier und Beobachtung der Speisegesetze missbrauchten. 4.) am Rosch Haschanah-Abend versammelte Gottesgemeinden aus ihren Gotteshäusern mit Boten der Polizeimacht getrieben und ihnen ihr Gotteshaus und ihr Gottesdienst geschlossen wurde, damit sie gezwungen würden — einem Gottesdienst mit Orgelklang und Chorgesang von der Mache ihres Rabbinen an einem andern Ort beizuwohnen.

Für zweckdienliche Hinweise wäre ich sehr verbunden….

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