Der Nachfolgende Artikel ist der Zeitschrift Nachalat Zwi, 2. Jg., 1931/32, Heft 7-8 (April 1932) entnommen. Er wurde dem heutigen Sprachgebrauch leicht angepasst und mit Erläuterungen versehen von Michael Bleiberg.

Das Original finden Sie in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main unterhttps://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2552208

Von Dr. Salomon Ehrmann[2]

Es ist vom allgemein agudistischen Standpunkt aus von ganz besonderem Interesse, die geschichtliche Aufgabe der Agudas Jisroel in Deutschland näher zu beleuchten, und zwar aus zwei Gründen. Zunächst ist es bemerkenswert, dass Deutschland trotz seiner relativ geringen Zahl gesetzestreuer Juden den Anstoß zur Gründung der Agudas Jisroel gegeben hat, und es lohnt sich wohl, den Gründen nachzuforschen, die dafür maßgebend waren. Es ist ferner nicht unwichtig, sich darüber klar zu werden, dass in anderen Ländern die Agudas Jisroel eine politische Bedeutung nach außen hinaufweist, vor allem in Polen, Lettland und anderen Staaten, wo die Aguda ihre parlamentarische Vertretung im Sejm mit berechtigtem Stolz als eine Frucht der agudistischen Arbeit zu registrieren vermag. Die deutsche Aguda ist nummerisch viel zu klein, als dass sie den Ehrgeiz haben könnte, ihre Vertreter in den deutschen Reichstag zu entsenden, wie überhaupt sich außenpolitisch zu betätigen. Wenn also trotzdem von einer agudistischen Tätigkeit in Deutschland gesprochen wird, so muss sie eine nach innen gewandte Tätigkeit sein. Leicht verliert man bei der großen Fülle der Gegenwartsaufgaben auf praktischem Gebiet die große Linie der agudistischen Ideologie. Sie in aller Reinheit darzustellen, dürfte am leichtesten bei einer Betrachtung der geschichtlichen Aufgaben der Agudas Jisroel in Deutschland möglich sein.

1. DER HAMBURGER TEMPEL.[3]

Es liegt in der Initiative zur Gründung der Aguda durch deutsche Juden ein Akt historischer Gerechtigkeit; denn von Deutschland ging zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts auch die verheerende Seuche des Abfalls vom Judentum aus, und es ist selbstverständlich, dass auch die Selbstbesinnung, wie man diesem Abfall entgegentreten könne, am frühesten im nämlichen Lande erfolgte. Man pflegt gewöhnlich den Beginn des Abfalls vom Judentum in Deutschland auf Mendelssohn und seine Schule zurückzuführen. Das ist nur insofern richtig, als Mendelssohn mit seiner Bibelübersetzung der geistige Urheber der jüdischen Abfallsbewegung geworden ist. Diese Abfallsbewegung hätte sicherlich zu einer völligen Assimilation vielleicht des größten Teils der deutschen Judenheit geführt, wenn nicht zu Beginn des vorigen Jahrhunderts das Reformjudentum (oder, wie man es heute nennt, das liberale Judentum) entstanden wäre und dieser Abfallsbewegung ein jüdisches Firmenschild umgehängt hätte. Noch heute sind die Wortführer des liberalen Judentums stolz darauf, dass ihre religiösen Reformen es gewesen seien, die tausende von deutschen Juden von der Taufe zurückgehalten hätten. Und in der Tat! Wenn diese Tausende damals, vor hundert Jahren, zwischen Orthodoxie und völliger Assimilation zu wählen gehabt hätten, dann hätten sie sicherlich nicht gezögert, sich für das letztere zu entscheiden. So aber brauchten sie damals nur zwischen Orthodoxie und liberalem Judentum zu wählen, und da fiel es ihnen nicht schwer, sich für ein Judentum zu entscheiden, das ihnen die Möglichkeit gewährte, auch im ungetauften Zustand ihr Judentum so zu gestalten, als ob sie getauft wären. Wer die Möglichkeit eines solchen Judentums zugibt, wird in seiner Entstehung und Wirksamkeit ohne weiteres einen Segen fürs Judentum erblicken; wer aber das auf mündlicher und schriftlicher Lehre aufgebaute sogenannte orthodoxe Judentum als die einzige mögliche Form des Judentums schlechthin anerkennt, wird die Entstehung des liberalen Judentums und seinen siegreichen Kampf um die Anerkennung, die ihm ja schließlich auch zuteilwurde, als eine der größten Katastrophen der jüdischen Geschichte einsehen müssen, unter deren Folgeerscheinungen wir noch heute zu leiden haben. Denn nun wurde die Assimilation, die seit Mendelssohn folgerichtig aus dem Judentum herausgeführt hatte, im Judentum selbst verankert. Was ursprünglich sich selbst durchaus richtig als Nichtjudentum empfand, ging nun dazu über, sich als eine gleichberechtigte Richtung im Judentum zu etablieren und auch bei der Orthodoxie um Anerkennung und (was ja dasselbe ist) Gleichwertigkeit zu werben.

Wie hat nun vor etwa 110 Jahren die Orthodoxie auf die Entstehung des liberalen Kultus reagiert? Am Jaum Hakipurim[4] des Jahres 5470 (1818) war es, als zum ersten Mal im Hamburger Tempel die Tefilo[5] mit Orgelbegleitung vonstattenging mit dem ganzen Drum und Dran einer richtigen Reformliturgie, als da sind: Verstümmelung der Gebete, gemischter Chor und dergleichen. Die Hamburger Dajonim[6] wandten sich an sämtliche großen Rabbinen in Deutschland, Polen, Frankreich, Italien, Böhmen, Mähren und Ungarn und forderten sie auf, über den neuen „Tempel“ ihr Urteil abzugeben und siehe da — obwohl damals eine programmatische und prinzipielle Ablehnung der Grundlagen des Thorajudentums noch nicht vorlag, ja im Gegenteil, die Schöpfer des damaligen „Hamburger Tempels“ — im Gegensatz zu den Schöpfern des heutigen, vor einem Jahre gebauten[7] — sich bemühten, den Nachweis zu erbringen, dass sie durchaus [8]כְּדַת וְכַדִּין  gehandelt hätten, so erhob sich die gesamte Orthodoxie wie ein Mann, um sich gegen den „Hamburger Tempel“ als ein unerhörtes Attentat gegen תּוֹרָה und יִרְאָה [9] zu wenden. Damals, in jenen Zeiten, als das „Hamburger Attentat“ in den gesetzestreuen Kreisen der ganzen Welt einen Schrei der Entrüstung auslöste, hätte die Agudas Jisroel gegründet werden sollen. Indessen hoffte man damals noch im Stillen, dass das entstandene neue Judentum an seiner inneren Hohlheit selbst zugrunde gehen würde. Man ahnte nicht, dass dem neuen Geist, der sich zum ersten Mal im „Hamburger Tempel“ verkörperte, ein Siegeszug durch die großen jüdischen Gemeinden Deutschlands, Westeuropas und Amerikas beschieden war. Daher ließ man es bei einem Protest bewenden, ohne hieraus die Konsequenzen der Tat zu ziehen, und so ist dieser Protest ein ganzes Jahrhundert die einzige gemeinsame Aktion der gesamten Weltorthodoxie geblieben. Unserer Gegenwart blieb es vorbehalten, nachträglich das zu schaffen, was damals versäumt wurde.

Es ist die geschichtliche Aufgabe der deutschen Aguda, die Herrschaft der Thora, die vor hundert Jahren in Deutschland untergraben wurde, wiederherzustellen, indem sie den missverständlichen Ausdruck Orthodoxes Judentum“ durch den umfassenden Begriff der Agudas Jisroel verdrängt und durch Schaffung einer thoratreuen Einheitsfront den Schutz der Thora in Deutschland zu einem Anliegen des organisierten Klal Jisroel[10] erhebt.

II. DAS BRESLAUER RABBINER – SEMINAR.[11]

So verhängnisvoll die Eröffnung des „Hamburger Tempels“ zu Beginn des vorigen Jahrhunderts war, so war doch die Eröffnung des „Breslauer Seminars“ in der Mitte des vorigen Jahrhunderts noch viel verhängnisvoller. Die Gegner der jüdischen „Rechtgläubigkeit“ empfanden es instinktiv, dass mit der Assimilation der Synagoge an die christliche Umwelt im Grunde genommen noch sehr wenig getan war, um den damit eingeleiteten Prozess der Zersetzung des jüdischen Bewusstseins zu einem vollen Erfolg zu führen. Es war doch immerhin noch möglich, dass der gesunde jüdische Volksinstinkt früher oder später diesen gewaltsamen operativen Eingriff in den traditionellen Gottesdienst als eine künstliche Angleichung an Widerstrebendes empfinden und schließlich ablehnen werde. Daher ging man dazu über, die Keime der Zersetzung an die Wurzeln des jüdischen Bewusstseins zu legen.

Auf die Assimilation der Synagoge folgte die Assimilation des Beth Hamidrosch.[12] An die Stelle von Talmud Thora trat „die Wissenschaft des Judentums“[13].

Der „Hamburger Tempel“ hat das Judentum verkirchlicht, das „Breslauer Seminar“ hat es verweltlicht. Was die Fraenkel und Graetz aus dem Judentum gemacht haben, das trat freilich nach außen hin nicht so aufdringlich in Erscheinung, wie das Zerrbild des jüdischen Gebetes im „Hamburger Tempel“, es spielte sich in den stillen Räumen des Lehrhauses ab und prägte sich in literarischen Erzeugnissen aus, die niemals allgemeines jüdisches Volkseigentum werden sollten. Gleichwohl war Breslau für die Thora in Deutschland verhängnisvoller als Hamburg, denn Breslau hat sich nicht darauf beschränkt, dem Judentum einiges wegzunehmen und anderes einzufügen, es hat vielmehr eine grundstürzende Änderung des jüdischen Denkens und Forschens vorgenommen. Es hat dieses Neue in bewusstem Gegensatz zur Vergangenheit stolz die „Wissenschaft des Judentums“ genannt. Eben dadurch aber hat Breslau das allmähliche Schwinden der wahren jüdischen Wissenschaft eingeleitet und den allmählichen Untergang der überlieferten Methode des jüdischen Denkens und Forschens der Thora als einer vom Sinai tradierten Wissenschaft vorbereitet. Die Orgel im „Hamburger Tempel“, so unzulässig sie auch war, erklang immerhin zu Ehren Gottes, dessen Thora die Schöpfer dieses Tempels nicht umstürzen, sondern gerade im Gegenteil, in einer neuen Welt durch neue Mittel zu befestigen vorgaben.

Was aber die „Breslauer Schule“ (Fraenkel und Graetz) tat: die kritisch-wissenschaftliche Profanisierung der mündlichen Lehre, das Hineintragen des modernen Gegensatzes zwischen Orthodoxie und Reform in die Lehrhäuser eines Schamai und Hillel[14] — das alles lief auf eine Entthronung Gottes aus dem Tempel der jüdischen Wissenschaft hinaus, auf eine Verweltlichung des Judentums — und darum letzten Endes auf die Aushöhlung der Grundlagen des jüdischen Lebens.

Wie hat nun die Orthodoxie das „Breslauer Seminar“ aufgenommen? Der „Hamburger Tempel“ hatte den flammenden Protest der Weltorthodoxie hervorgerufen. Als die viel gefährlichere „Breslauer Schöpfung“ ins Leben trat, wurde sie selbst in manchen orthodoxen Kreisen mit warmherziger Begeisterung empfangen. Nur eine Stimme wagte es, laut und schrill auf die Gefahren hinzuweisen, die von Breslau dem Judentum drohten: Rabbiner Samson Raphael Hirsch זצ״ל. Die öffentliche Meinung der Orthodoxie wurde erst später stutzig, als die ersten Früchte des „Breslauer Geistes“ in dem neuen Rabbinen-Typus zutage traten, der sich bald allenthalben in den Großgemeinden breit zu machen begann. Man versuchte, Lehre mit Leben auszugleichen, Kompromisse zu schließen. Es erwachte der Geist, der im Din[15], in dem, was religionsgesetzlich festgelegt ist, nichts Festes erblickte, sondern etwas Weiches, woraus sich alles Mögliche formen lässt, was dem jeweiligen Bedürfnis der jeweiligen Gemeinde–Majorität entspricht. Es war Geist vom Geiste Breslaus, wenn eine Gattung von Rabbinen entstand, welche die הַתָּרַת הוֹרָאָה (Erlaubnis des Lehrens) in eine הוֹרָאַת הַתָּרָה (Lehre des Erlaubens) verwandelte. Es kam hinzu, dass die Thorakenntnis im Kreis der Nichtrabbinen immer mehr und mehr schwand und dadurch ein Rabbinentyp erst ermöglicht wurde, der nicht mehr im Thoralernen- und lehren seine Aufgabe erblickte, aber doch von der Gemeinde als der Vertreter des Judentums angesehen wurde; man versäumte damals K’hillobalebatim[16] als Lamdonim[17] zu erziehen, vor deren Kontrolle dieses unmöglich gewesen wäre.

Es ist die geschichtliche Mission der Agudas Jisroel in Deutschland, die Alleinherrschaft der Thora auch im geistigen Leben wiederherzustellen, indem sie das alt jüdische „Lernen“ in sein historisches Recht wieder einsetzt und durch den „Keren Hathora Schulen“ für Kinder, „Jeschiwoth“ für Jünglinge, „Schiurim“ für Erwachsene fördert und die Durchdringung der deutschen Judenheit mit Thorakenntnis und einer der wichtigsten Aufgaben des organisierten Klal Jisroel macht.

III. ZIONISMUS.

Noch ein dritter Gegner, der gefährlichste, entstand dem orthodoxen Judentum in Deutschland gegen Ende des vorigen Jahrhunderts: der Zionismus. Hamburg am Anfang, Breslau in der Mitte, der Zionismus am Ende des Jahrhunderts. War die Stoßkraft der Orthodoxie, die sich gegen Hamburg noch ungebrochen gesammelt hatte, schon Breslau gegenüber wesentlich schwächer geworden, so versagte sie vollends, als ihr der Zionismus entgegentrat.  Schuld an dieser Ohnmacht der Orthodoxie hat der geringe Erfolg, der dem sogenannten „Austrittsgedanken“[18] in den siebziger und folgenden Jahren beschieden war. Sicher wider seinen eigenen Willen war der Würzburger Raw זצ׳ל in der öffentlichen Meinung Deutschlands zum Kronzeugen der Gleichberechtigung aller Richtungen im Judentum geworden.[19] Denn die Verkünder der Thora-Souveränität konnten sagen, was sie wollten, es war ja doch nur die abgesplitterte, eigenwillige und unmaßgebliche Parteimeinung der — Trennungsorthodoxie. Selbst die Berechtigung des Bannes gegen den „Hamburger Tempel“ wurde von manchen im Stillen angezweifelt, nachdem man sich sogar mit „Breslau“ und allem, was Breslau folgte, abgefunden hatte. Der Antisemitismus, der immer stärker wurde, drängte mit dem Ruf zur Einigung aller deutschen Juden, den er auslöste, den Souveränitäts-Anspruch der Orthodoxie noch weiter zurück, sodass der Zionismus in den neunziger Jahren leichtes Spiel hatte, sich auch der Orthodoxie als die einzig mögliche Rettung des Judentums zu empfehlen. Ideologisch war der Zionismus mit seinem Jenseits von Treue und Abfall zum Gottesgesetz stehenden jüdischen Pseudonationalismus dadurch vorbereitet, weil die Einheitsgemeinden mit liberalen und orthodoxen Institutionen für ihre Mitglieder schon längst nicht mehr die Anerkennung des Judentums, sondern die Zugehörigkeit zur Judenheit als einziges einigendes Moment notgedrungen anerkennen mussten — also ein negatives.

Und doch konnte es auf die Dauer nicht ausbleiben, dass in weiten Kreisen der Orthodoxie das Feingefühl für den Gegensatz zwischen der altjüdischen Zionsliebe und modernem Zionismus immer mehr erstarkte.

Schon im Begriffe von Erez Hakdauscho, des heiligen Landes, tritt ja die Eigenart eines wahrhaft jüdischen Zionismus klar zu Tage. Dieses Land ist für uns heilig, d.h. wir müssen ihm mit unserem Denken und Fühlen den nämlichen Platz einräumen, wie wir ihn auch für andere heiligen Dinge, die es ja im Judentum recht viele gibt, zu reservieren pflegen; denn heilig ist nicht bloß das „Heilige Land“, heilig ist auch Gott, heilig ist auch Israel. Ungezählte Male spricht der Jude während seines ganzen Lebens die Worte: Gesegnet sei Gott, der uns geheiligt hat mit seinen Geboten. Diese Heiligkeit, die wir auch auf Erez Jisroel übertragen, ist keine romantische Redewendung, sie ist vielmehr das Bindeglied, vermittels dessen das jüdische Bewusstsein Erez Jisroel für ein gleichwertiges, gleichgeordnetes Glied in den Gesamtbereich des jüdischen Lebens, in den unteilbaren Organismus des Judentums, einreiht. Es geht nicht an, Erez Jisroel aus seiner Verbindung mit den übrigen Elementen der Thora herauszureißen und vom „Heiligen Lande“ zu sprechen, während man den Begriff der „Heiligen Thora“ im besten Falle einer Fraktion des neutralen jüdischen Volkes — dem Misrachi53 — überlässt.

Außerdem ist Erez Jisroel der Orthodoxie diejenige Stätte, in welcher versucht werden kann, im Kleinem ein Musterbeispiel für die jüdische Gesamtheit aufzurichten, wo Thora, Volk und Land in unteilbarer Einheit das Bild des Gottesstaates zeigen, wie es einstens unsere Propheten geschaut.

Es ist die geschichtliche Aufgabe der Aguda in Deutschland, mit dem ganzen Ausmaß ihrer Kräfte mitzuarbeiten, die Alleinherrschaft der Thora auch auf dem Gebiet der Erez Jisroel – Politik wiederherzustellen, indem sie den Begriff des „Heiligen Landes“ in seine geschichtlichen Rechte wieder einsetzt und „Jischuw Erez Jisroel“[20] im Sinne der Thora zu einer der wichtigsten Aufgaben des organisierten Klal Jisroel erhebt.

IV.

Hamburg am Anfang, Breslau in der Mitte, der Zionismus am Ende des Jahrhunderts. Hamburg hat aus der Synagoge einen Konzertsaal, Breslau aus dem Beth Hamidrosch ein Seminar, der Zionismus aus Erez Jisroel ein areligiöses Territorium gemacht. Die Konsequenz der Thoragegner in der Ablehnung der Thorawahrheit darf und wird nicht verfehlen, die deutsche Agudas Jisroel zu gleicher Konsequenz im entgegengesetzten Sinne anzuspornen, wenn die Geschichte der deutschen Judenheit seit ihrer Emanzipation einen Sinn haben soll. Sie wird aber auch der Agudas Jisroel in den andern Ländern, ganz besonders im Osten ein mahnendes Beispiel dafür sein, wie man rechtzeitig, ohne 90 % des Bestandes einzubüßen, den Gefahren der individuellen und nationalen Assimilation durch Agudas Jisroel entgegentreten kann. Diese Arbeit an sich selbst und für die Gesinnungsgenossen in den anderen Ländern, das ist die geschichtliche Aufgabe der Agudas Jisroel in Deutschland.

Anmerkungen zum vorstehenden Artikel

von Michael Bleiberg

Die hebräische Sprache zu beherrschen, weil es seine Muttersprache ist, hat nichts mit Judentum zu tun. Ein Territorium zu verteidigen, weil sich innerhalb dessen mehrheitlich Juden befinden, hat nichts mit Judentum zu tun. Ein Territorium zur Einwanderung vornehmlich jüdischer Menschen zu Verfügung zu stellen, hat nichts mit Judentum zu tun. Die Errichtung eines Staates, in dem mehrheitlich Juden wohnen sollen, hat nichts mit Judentum zu tun. Das Ziel der Zionisten einen Judenstaat zu errichten, geht in die Irre. Das Ziel muss die Errichtung eines Gottesstaates sein.

Ich möchte hier in diesem Zusammenhang nochmals an die Rede[21], gehalten anlässlich der Jahrzeitgedächtnisfeier  Rabbiner S.R. Hirschs s“l., am 27. Teweth 5695 (1935) von seinem Enkel Herrn Dr. Isaak Breuer erinnern und einige Passagen zitieren: „Es hatten sich kaum erst die Augen unseres großen Lehrers geschlossen, da folgte auf seinen Weckruf zum Gottesstaat der Weckruf zum Judenstaat, und erst dieser Weckruf zum Judenstaat in seiner diametralen Gegensätzlichkeit zum Weckruf zum Gottesstaat hat uns Nachfahren das eigentliche Wesen der Leistung Rabbiner Hirschs enthüllt. Auf den Weckruf zur Metageschichte kam der Weckruf zur Pseudogeschichte, auf den legitimen Revolutionär kam der illegitime Revolutionär, und der ganze Sinn des furchtbaren ernsten Erlebens unserer Tage liegt in dem einen Satz beschlossen: Hirsch oder Herzl! Ein Drittes gibt es nicht! Aufstieg zur Metageschichte oder Abstieg zur Völkergeschichte! Ein Drittes gibt es nicht. Endgültig ist unsere nationale Galuthgeschichte aus einem Epos zu einem Drama geworden. Sie schreitet fort, sie schreitet unaufhaltsam fort. Setzt sich in ihr Rabbiner Hirsch durch, so winkt uns der Gottesstaat des über Jeruschalaim herrschenden Zion als Siegespalme. Setzt sich in ihr Rabbiner Hirsch nicht durch, so kann der Gottesstaat nur noch als Gnade kommen. Ein Drittes gibt es nicht. –“

Gottesstaat oder Judenstaat: dieses erschütternde Entweder ­ Oder, das uns alle, ob wir wollen oder nicht, in die Geschichte reißt, das, geschichtlich gesehen, Herzl im Sinne der Antinomie[22] als den größten Helfershelfer Rabbiner Hirschs erweist, verleiht Rabbiner Hirsch als Wegweiser unseres neuen geschichtlichen Ganges die unerhörteste Aktualität. Geist seines Geistes hat durch die Tätigkeit der Agudas Jisroel die polnische Massenorthodoxie gerettet, wie mir dies erst vor einigen Tagen einer ihrer ersten Führer bestätigt hat. Geist seines Geistes wird Jeruschalaim für Zion erbauen!“

Ich habe den Artikel über die „Agudas Jisroel“ bewusst in diesem Heft des „Auszuges aus Ägypten“ gewählt, da nicht erst ab dem Jahre 1933 und verstärkt jedoch ab dem Jahre 1938 der „Auszug der Juden aus Deutschland und Europa“ begann. Es war eine der vornehmlichsten Aufgaben der „Agudas Jisroel“ Juden bei der Flucht aus Deutschland und Europa behilflich zu sein. Es wurden Gruppentransporte nach Lateinamerika, Amerika und Palästina usw. organisiert.

Ich möchte meine Anmerkungen mit einem Artikel „Nicht Mitleid, sondern Mittel und Menschen braucht der Jischuw“ aus der letzten Ausgabe der Zeitschrift „Der Israelit“ von 1. November 1938, also unmittelbar vor der sogenannten Kristallnacht (Nacht vom 8. zum 9. November 1938) schließen in dem es heißt: „„Tausend neue Menschen brauchen wir zur Stunde in Palästina. Und unter Ihnen müssen zumindest ein paar hundert sein, die mit dem Psalmsänger wissen, dass „all unsere Kraft versagt, wo der vertrauensvolle Aufblick zu Gott fehlt; dass, wenn Gott nicht das Haus baut, sich vergebens die Baumeister mühen; wenn Gott die Stadt nicht bewacht, alle Wachdienste des Hüters unnütz sind.[23]

Diese Erkenntnis muss zur kräftigen Förderung einer gesetzestreuen Aliyah führen.“


[1] 1885 wurde von Rabbiner S.R.Hirsch die „Freie Vereinigung für die Interessen des Orthodoxen Judentums in Deutschland“ gegründet. Schon bald stellte man fest, dass die Probleme zwischen Orthodoxen und Reformjuden sich nicht nur auf Deutschland erstreckten. So entsprang der Gedanke einer internationalen Organisation, die die Interessen der Orthodoxen Judenschaft vereinigte. Neben der „Freien Vereinigung“ existierte u.a. in Wilna eine religiös-orthodoxe-zionistische Organisation, genannt Misrachi (Abkürzung f. Merkas Ruhani: Religiöses Zentrum). Als es wegen der Schulpolitik in Palästina auf dem 10. Zionistenkongress in Basel 1911 so aussah, das sich die Misrachi von den Zionisten abspalten würde, kam es 1912 in Kattowitz zur Gründung der Agudas Jisroel, vor allem Russischer und Deutscher Orthodoxer Juden die eine Gegenbewegung zu den laizistischen Zionisten darstellen wollten. Wikipedia: „Während des Ersten Weltkriegs wurden Pinchas Kohn und Rabbiner Emanuel Carlebach aus Deutschland angewiesen, als rabbinische Berater für die deutsche Besatzungsmacht in Polen tätig zu werden. In dieser Position arbeiteten sie eng mit Abraham Mordechai Alter (4. Gerer Rebbe) zusammen. Als Ergebnis dieser Zusammenarbeit wurde im Jahre 1916 die Agudath Israel in Polen gegründet, deren Ziel es war, das ost- und westeuropäische orthodoxe Judentum zu vereinigen.“ Sehr schnell verbreitete sich die Organisation auch in anderen Ländern, so z.B. in Lettland, Slowakei, Großbritannien, Amerika, Deutschland und Palästina, später Israel. In Israel stellte sich die Organisation auch als Partei zur Wahl der Knesset.

[2] Dr. Salomon Ehrmann war Vorstandsmitglied der Rabbiner-Hirsch-Gesellschaft s. Jeschurun.online, 1. Jg., Heft 7, S. 21-22

[3] In der Geburtsstadt von Rabbiner S.R. Hirsch s“l, Hamburg, wurde 1818 in der Ersten Brunnenstr. der „Israelitische Tempel“ des 1817 gegründeten „Neuen Israelitischen Tempelvereins“ errichtet und eingeweiht.

[4] Jom Kippur, Versöhnungstag, höchster jüdischer Feiertag nach Schabbat

[5] Tefila, das Gebet

[6] Dajanim, Rabbinische Richter

[7] der „Hamburger Tempel existierte 1818 – 1844 in der Ersten Brunnenstr., 1844-1931 in der Poolstr. und 1931-1939 in der Oberstr.

[8] nach „Recht und Ordnung“

[9] Thora und Gottesfurcht

[10] Gemeinde Israels

[11] Wikipedia: „Das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau, eigentlich Jüdisch-Theologisches Seminar Fraenckel’sche Stiftung, war ein von 1854 bis 1938 bestehendes Rabbiner- und Lehrerseminar in Breslau. Das auf Grund einer testamentarischen Verfügung des Breslauer jüdischen Geschäftsmannes Jonas Fraenckel (1773–1846) errichtete Seminar wurde am 10. August 1854 eröffnet und entwickelte sich zu einer der wichtigsten jüdischen Bildungseinrichtungen in Europa bis zum Machtantritt der Nationalsozialisten in Deutschland, die das Seminar 1938 schlossen.“

[12] Bet Hamidrasch, Orthodoxe jüdische Lehranstalt

[13] Wikipedia: „Die Wissenschaft des Judentums war eine der einflussreichsten intellektuellen Strömungen des deutschsprachigen Judentums. Entstanden im Kontext der Emanzipation begründete sie das moderne wissenschaftliche Studium des Judentums und war wesentlicher Faktor der innerjüdischen Reformbewegungen im 19. Jahrhundert. Mit der Einführung der historischen Kritik übersetzte sie die traditionelle jüdische Gelehrsamkeit in die Denk- und Wahrnehmungskategorien moderner (Geistes)wissenschaften. Zu ihren Vertretern zählten Wilhelm Bacher, Leo Baeck, Abraham Berliner, Ismar Elbogen, Zacharias Frankel, Aron Freimann, Eduard Gans, Abraham Geiger, Heinrich Graetz, Heinrich Heine, David Hoffmann, Manuel Joël, Isaak Markus Jost, David Kaufmann, Moritz Steinschneider und Leopold Zunz. Zu den wenigen Wissenschaftlerinnen zählte die Historikerin Selma Stern.

[14] talmudische Gelehrte

[15] religiösen Gesetz

[16] Fromme innerhalb der Gemeinde

[17] Lehrende

[18] Ausgehend von Frankfurt am Main unter der Führung von Rabbiner S.R. Hirsch s“l trennten sich in einigen Städten die orthodoxen Gemeinden von den Reformgemeinden. Dem Beispiel Frankfurts folgten jedoch nur wenige Gemeinden

[19] s. hierzu auch den Schriftwechsel zwischen Rabbiner S.R. Hirsch und dem Würzburger Rabbiner Seeligmann Bär Bamberger abgedruckt in Jeschurun.online 1.Jg., Heft 11 und 12

[20] die Ansiedlung im „Heiligen Land“

[21] Wiedergegeben in Jeschurun.online, 1. Jg., Heft 9, S. 11 ff

[22] Paradoxon, ein Widerspruch in sich

[23] Psalm 127:1

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