Bei der Bearbeitung dieses Textes ist mir aufgefallen, wieviel an historischem Wissen Rabbiner Hirsch bei seinen Lesern voraussetzt, damit seine Texte überhaupt verstanden und zeitlich eingegrenzt werden können. Es ist somit erschreckend, was uns an jüdischem Wissen verloren gegangen ist.

Dieser Text wurde dem heutigen Sprachgebrauch angepasst und mit Anmerkungen versehen von M. Bleiberg. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass hier kein Nachdruck aus dem vom Morascha Verlag veröffentlichten „Chorew“ vorliegt, obwohl ich dieses Buch an verschiedenen Stellen zu Rate gezogen habe.

Die Fußnoten befinden sich am Ende des Artikels.

Kap. 34.

Chanukka und Purim (חנוכה ופורים)

§ 245.

Nachdem zum zweiten Mal[1] Israel sich zum Teil auf väterlichem Boden versammelt sah, gleichsam um sich auf die große Wanderung vorzubereiten, die ihnen durch Jahrtausende hin bevorstand[2], ersahen es die weisen Führer des Volkes als ihre Aufgabe, wach zu sein über die Führung, die unsichtbar Gott ihnen angedeihen lassen werde. Jedes Leiden verzeichneten sie und die Rettung daraus. Den Tag der Rettung erhoben sie dann zum Zeitdenkmal, auf dass Nachkommen lernen, unter welchen inneren und äußeren Kämpfen der Väter Existenz im Galuth errungen, und das Israelsgut, die Tora, erhalten werden musste, dass es die Väter rein den Enkeln überliefern konnten, und wie über beides, wenngleich nicht mit offenbaren Mizrajims-Wundern, doch unsichtbar Gott schützend und erhaltend und rettend gewacht. — So entstand [3]מגילת תענית, ein Verzeichnis von Gefahren, in denen Israels Leben und die Tora unter dem Druck besonders der syrisch-mazedonischen Herrschaft schwebten; Gefahren, in denen die Tora schwebte durch die, Israels Geist entfremdeten inneren Parteiungen. — Als aber im Verlauf der Zeiten Israel aller äußeren Selbständigkeit beraubt, seine ganze Existenz und die ganze Forterhaltung der Tora zu einer fortlaufenden Wunderoffenbarung der unsichtbar waltenden Gottheit ward; Leiden, wie dort sie verzeichnet sind[4], mit in die alltägliche Lebensqual Israels gehörten, und darum auch, wie die Weisen sich ausdrücken, das durch Leiden für gewöhnliche Empfindung abgestorbene Fleisch das schneidende Messer schon nicht mehr fühlte; — da hörte man auf, solch ein Leidens- und Rettungstagebuch fortzuführen, und die Fortbeachtung der bereits verzeichneten verlor sich im Gesamtruin. — Nur zwei, die bedeutendsten, wurden erhalten, um aufrichtende Lichtpunkte zu bleiben für Israels Zerstreute, dass sie ihnen zurufen: auch wenn gleich unsichtbar, doch nicht minder allgegenwärtig, allschützend und allerrettend weilt um sie der Väter Gott auch in der Zerstreuung, jede Prüfung kommt ihnen von Seiner Hand — jede Träne werde vor Seinem Auge geweint— jeder Seufzer bahnt zu Ihm sich den Weg; — auch wenn rohe Gewalt Israels Geist ertöten will — oder verschlagene Ränke über der Hilflosen Geschick würfeln zu dürfen vermeinen, Israels Gott wacht dennoch über den Geist — und Ränke zerstören sich selber. — Diese beiden Denkmäler der Israel im Galuth schützenden Gottheit sind: Chanukka (חנוכה) und Purim (פורים). Chanukka beginnt am 25sten Kisléw und dauert acht Tage, Purim wird am 14ten oder 15ten Adar gefeiert.[5]

Chanukka. (חנוכה)

§. 246.

Begebenheit: Des makedonischen Alexanders zusammenerobertes Reich ward mit seinem raschen Tod Beute seiner Feldherren, — und Länder und Völker seufzten unter der Geißel des Krieges, den die, um die Teilung entzweiten Herren entzündeten. — Israel, dessen scheinbare Wiederherstellung durch Kauresch[6] ja überall nie wahre Wiederherstellung war, das immer, wenngleich in seinem Inneren selbständig, nach außen hin nur begünstigte Provinz persischer Herrschaft blieb, — so wurde Israel endlich, vielfach von jenen Kämpfen verwundet, eine syrische Provinz der Seleukiden[7].

Unter Antiochus Epiphanes[8], einem Fürsten Syriens, sollte nun Israel zum ersten Mal die Waffen der Gewalt, nicht auf ihre Habe, nicht auf ihr Leben, nicht auf ihre Freiheit gerichtet sehen, sondern auf das, was ihnen mehr noch ist als Hab und Gut, als Land und Leben und Freiheit, — gerichtet sehen auf Vernichtung ihrer Lebenslehre, auf Auslöschung ihres Wissensgeistes, auf Tötung ihrer Lebensreinheit, auf Vertilgung ihres Israelwandels. — Mizrajim knechtete Israels Leib, Babel, und später Rom, waren Landeseroberer, Persien war selbst milde gegenüber der eroberten Provinz, alle waren Macht gegen Schwächere, und wollten wiederum nur Macht und Gut. Dem Antiochus war das, eines Rasenden, wie die Folgezeit ihn nannte, würdige Beginnen vorbehalten, Despotengewalt gegen den Geist zu kehren, und Israel vertraut zu machen mit den Prüfungen, die ihrer so viele Jahrhunderte hindurch warteten, zwischen geistigem oder körperlichem Tod zu wählen. — Wie rasend ward gewütet; — Beachtung der Israels Leben tragenden Stützen: Tora, Schabbat, Brit Mila, mit dem Tode gebüßt; gebüßt mit dem Tod jede Erfüllung der Pflicht; durch Wollust der Satrapen wurde die Keuschheit der Häuser ertötet; der Tempel entheiligt, Götzen in ihm errichtet; —— und dem alleinigen Gott zu entsagen und Göttern zu opfern sollte mit Schrecken des Todes erzwungen werden; —— da fielen die ersten Leichen für den Bestand der Tora.

Da — als gefallen waren die Treuen — als schon schwankten die Schwachen — und verlassen sich sah Israels Sache — erhob sich Mattitjahu, Sohn Jochanans, der Priester, mit seinen Söhnen, zählte nicht die Zahl der ihm Gleichgesinnten, vertraute auf den Geist und auf Gott, der dem Geist den Sieg verleiht über rohe Gewalt, erhob sich zum Kampf gegen solche Raserei, — und Gott ließ siegen, vollkommen siegen seiner Treuen Schwäche über der Übermütigen Gewalt. —

Und so wie Gott über die Erhaltung des Israelgeistes gegen Wüten der Gewalt gewacht, und an dem Geisteslicht, das in eines Mannes Brust rein noch leuchtete, Israels Licht neu sich entzünden ließ; also sprach Er es auch durch sichtliches Zeichen aus: dass Er auch in Zeitenwüste über Erhaltung des Israelgeistes wache. Denn, als nun verscheucht waren die Tyrannen, gesäubert das Land, gereinigt der Tempel von Götzengreuel, und nun der Tempelleuchter, der Israels Geisteslicht, als von Gott ausströmend darstellte, wieder angezündet werden sollte, fand sich nur ein noch unentweihtes Krügchen Öl, für eines Tages Dauer hinreichend. Aber sieh! Der über Israels Geisteslicht wacht, ließ es ausreichen für volle acht Tage, bis neues Öl bereitet wurde. — Das Zeichen ergriffen die Väter und erhoben es zur sinnvollen Feier der Gedächtnistage, die dieser Begebenheit gestiftet wurden. —

Alljährlich, wenn wiedergekehrt die Chanukkazeit, werden in jedem Israelhaus, ja, von jedem Israelsohn, Lichter angezündet, und jener Tage Begebenheit in Wort und in gottanschauenden Gesängen gefeiert; auf dass es Israel durchleuchte das Wort durch seine dunklen Gänge: „das Israels Geisteslicht niemals erlösche. Und wenn auch rings um dich alles entweiht wäre im Drange der Zeiten, wenn auch nur in eines Hauses Kreis, ja nur in eines Mannes Brust rein bleibt das Licht — lebet nur heiter mitten in der Verirrung, sterbet selbst heiter unter eines Rasenden Wut — Israels Geistesleben bleibt gerettet — Gott wacht darüber, und, — auch nur an eines Mannes Licht — entzündet Er es neu.“

„Nicht mit Heeresmacht, nicht mit Körperkraft, sondern mit meinem Geiste, spricht Haschem Zewaot!“

§. 247.

Feier: So ist Chanukka Denkmal für die Erhaltung des Israelgeistes im Galuth. — Mit dem 25. Kislew beginnt die achttägige Feier. Während dieser ist jedes öffentliche Klagen und jedes Fasten verboten. Werkverrichtung nicht untersagt. Doch, solange die Festlichter brennen, lebe man nur gemäß ihrer Bedeutung und enthalte sich so lange jeder anderen Beschäftigung. Wie Gegenstand der Feier der Geist ist, so wird sie auch nur geistig begangen, und festliche Erhöhung des Genusses ist nicht angeordnet. ([9]א“ח 670.) — Jeder beachte die Pflicht des Anzündens der so Hohes und Ewiges verkündenden Lichter. Am ersten Abend wird ein, am zweiten zwei, und so jeden Tag eins mehr in jedem Haus angezündet; wo möglich von jedem Einzelnen im Haus, doch so, dass die Anzahl der dem Abend gehörigen Lichter erkennbar bleibt. Überhaupt sorge man, dass die immer wachsende Anzahl der Lichter deutlich sei. — Ehe Israel unter Fremden wohnte, wurden die Lichter vor dem Haus am Eingang, links dem Eintretenden, der Mesusa gegenüber, angezündet. Für uns bleibt es Feier des Hauses im Hause. Sie[10] verbleiben in  ihrer heiligen Bedeutung und werden zu nichts anderem gebraucht, darum brenne noch ein anderes Licht dabei, das Beleuchtung spendet. Sie werden über 3 [11]ט‘ vom Boden und in der Regel unter 10 ט‚, an besonderen Ort gestellt; auch bei uns, aus Nachhall früherer Sitte, gern in der Nähe der Tür. Im Bethaus, wo auch zur Veröffentlichung der Feier die Lichter angezündet werden, stehe in der Regel der Leuchter an der Südseite und die Lichter zwischen Ost und West, der Stellung des Leuchters im Tempel entsprechend. Doch enthebt dieses Anzünden im Bethaus nicht der Pflicht, im Haus die Lichter anzuzünden. („671.) Man zündet an mit vollendetem Sonnenuntergang, in der Regel nicht früher und nicht später, und also, dass sie mindestens ½ Stunde ungefähr brennen. („672.) Jegliches Licht ist tauglich, doch nehme man wo möglich hellbrennendes Öl oder Wachslichte. Das zum Anzünden benutzte Licht stelle man dabei, aber gesondert und kenntlich, wie oben. („673.) Man zünde sie an der für sie bestimmten Stelle an, und lasse sie dort ½ Stunde. („675.) Man zündet den ersten Abend das äußerste Licht zur Rechten, und beginnt jeden folgenden Abend mit einem weiter zur Linken. („676.) Nachdem sie die gesetzliche Zeit gebrannt, darf man sich ihres Lichtes bedienen („674.).  Was am achten Tage von dem zum gesetzlichen Maß des Chanukkalichtes nötigen Öls übrig- geblieben, darf nicht benutzt werden, sondern wird verbrannt. („677.) Am Freitag wird erst Chanukka- und dann Schabbatlicht angezündet. („679.)

Purim. (פורים)

§. 247a.

Begebenheit ist klar. Sie liegt ausführlich in dem uns überkommenen Vermächtnis der beiden Hauptpersonen, Mordechai und Esther, in מגילת אסתר[12]  vor. —  Schwarze Tücke sehen wir, Privatrache zu befriedigen, über das Leben vieler Tausend äußerlich hilflos Preisgegebener würfeln; den selbstsüchtigen Zweck geschickt unterm Schein des Eifers für des Staates Wohl verhüllen; dazu die harmlose Gesondertheit Israels als dem Staats-Endzweck gefährlich schildernd; und schon der Erreichung ihres verruchten Anschlages sicher. — Gegenüber jene Hilflosen, die nichts hatten als ernste Prüfung ihres bisherigen Lebens und Rückkehr zu Gott; ängstlich harrend des schrecklichen Tages, an dem ihnen allen der Untergang droht; auf Gott allein hinblickend, ob er wohl noch das Schreckliche abwenden werde; und nach menschlichen Kräften nur noch den einzigen Weg gerader Vorstellung und Bitte versuchend. — Und über Beiden[13] — unsichtbar Gott[14], längst schon vorbereitend die Heilung vor dem Schlage; Folgen der Menschentat zu Seiner Weisheit Zweck verknüpfend — Langeweile einer schlaflosen Nacht dem Könige — Aufwallung eines Augenblicks in des Königs Brust — und — abgewendet der Schlag von den Hilflosen, nur Gott Habenden, — zurückgeschleudert der fein berechnete, Verderben tragende Blitzstrahl aufs Haupt der Urheber; und wehrloses Israel zur selbständigen Verteidigung seines Lebens aufgerufen — zum Licht und zur Freude aus der Gefahr hervorgehend, der Nacht und Verderben gedroht. —

Da wurden die Tage solcher Errettung zum ewigen Zeitdenkmal für Israels Zerstreute, auf dass sie Kraft behielten in dem festen Vertrauen: Gott, der sie hinausgewiesen in die Wanderschaft unter Völker, wache auch unsichtbar über sie, und mache zu Schanden, was selbstsüchtige Bosheit an List und Ränken gegen sie schmieden möge. Das schwache Ja=akauw[15] sei stark in dem unsichtbar wachenden Gott.

War hier leibliches Leben bedroht und leibliches Leben errettet, so stellt sich auch die Purimfeier dar, neben öffentlichem Vorlesen jenes die Begebenheit verewigenden Vermächtnisses, in Festmahlen, gegenseitigen Genussgeschenken, und Bedenken der ärmeren Brüder. Gleichsam frohes Innewerden des wiedergeschenkten Lebens, in diesem Freudengefühl das Gesamtbrudergefühl gegenseitig erneuend, und ihm in Erheiterung der Ärmeren Raum gebend. —

§. 248.

Feier: Am 14ten Adar[16], nachts und am Tage, wird die Begebenheit in der Megilat Esther (מגילת אסתר) gelesen. Nichts geht dieser Pflicht vor, außer ein im Freien unversorgt liegender Toter. (א“ח 687.) Jedes Glied der Jaakow-Familie ist verpflichtet, nachts und tags die Megila zu lesen oder zu hören. Wo möglich trage einer in Versammlung sie vor und alle vernehmen sie aus seinem Munde. („689.) Sie werde ganz vorgelesen aus vorliegender, nach Vorschrift verfertigter Abschrift der מגילת אסתר. Aus nicht nach Vorschrift Verfertigter kann wohl zugehört, nicht aber mit-  geschweige vorgelesen werden. Sie werde als eine Vermächtnisschrift aus jener Zeit gelesen. („690.) Vorschriften zur Anfertigung der Megila siehe („691). Über das Vorlesen, den Gottesdienst u. s. w. siehe („690—694). Mindestens zwei Gaben an zwei Bedürftige sollst du am Purim geben. („694.) Das eigentliche Freudenmahl für Purim sei am Tage. Eben werden auch am Tage mindestens einem Freunde zwei Geschenke an Festspeisen geschenkt. („695.) Am Purim wird kein unnötiges Werk verrichtet, — keine Trauerklage, kein Fasten veranstaltet. („696.) Alles Nähere siehe („686—697).

§. 249.

Also, wenn Missbrauch der Gewalt zur Ertötung des Israel eigentümlichen Lebens, oder verschlagenes Benutzen der Eigentümlichkeit Israels zum Vorwand für Ausführung von Plänen der Gewalt, die beiden schrecklichsten Erscheinungen sind, die Israel auf seiner Wanderung durch die Zeiten bedrohen: so stehen Chanukka und Purim am Eingang dieser Wanderung wie Feuer- und Wolkensäule und mahnen uns: treu zu bleiben allen Pflichten, treu dem Israelberufe, treu dem Lande und Fürsten, die uns aufgenommen — und dann auf Gott zu blicken — und weder Gewalt noch List — zu fürchten.—

[1] Nach der Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft

[2] Nach der Zerstörung des zweiten Tempels

[3] Migilat Ta´anit, Mischnatraktat

[4] In der Migilat Ta´anit

[5] Purim am 14. Adar, Schuschan-Purim am 15. Adar. Siehe dazu den Artikel Schuschan-Purim S. 24

[6] Kyros II war persischer König, lebte ca. 590 v.d.Z. bis etwa 530 v.d.Z. Seine Nachkommen vergrößerten sein Reich, bis es 333 v.d.Z. von Alexander dem Großen erobert wurde. Er erlaubte die Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft.

[7] Seleukos I (ca. 358 bis 281 v.d.Z.) war einer der Feldherren „Alexanders des Großen“ die sich nach seinem Tod, dass von ihm errichtete Großreich aufteilten.

[8] Antiochus IV (ca. 215 bis 164 v.d.Z.) war ein König aus der Dynastie der Seleukiden.

[9] Orach Chaim, Teil des halachischen Gesetzbuches von Rabbi Jacob ben Asher (1269-1340)

[10] die Lichter

[11] Tefach, Handbreite, biblisches Maas, ca. 8 cm

[12] Megilat Esther

[13] Mordechai und Esther

[14] Gott bzw. der Name Gottes kommt in der Megilat Esther nicht ein einziges Mal vor.

[15] In der Morascha-Ausgabe des „Chorew“ steht hier : „Das schwache Volk von Jaakow…“

[16] im Schaltjahr des zweiten Adar

So sieht der Artikel im Original aus:

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